Das Recht auf Widerstand zum Schutz der Verfassung

Artikel 20 Abs. 4 Grundgesetz
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.
In den vergangenen Wochen erreichten uns vermehrt Anfragen von Lesern, die auf die jüngst geführten Diskussionen über die Zulassung von Kandidaten zu Kommunalwahlen Bezug nehmen. Hintergrund ist eine Regelung in mehreren Gemeindeordnungen, nach der nur derjenige wählbar ist, „der die Gewähr dafür bietet, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzutreten“. Der Ausschluss von Bewerbern, deren Haltung als zweifelhaft eingestuft wird, wirft dabei nicht nur Fragen des Wahlrechts und des Demokratieprinzips auf, sondern auch die grundsätzliche Frage nach Reichweite und Inhalt der freiheitlich-demokratischen Grundordnung selbst. In diesem Kontext wird von Bürgern häufig die Frage gestellt, ob und inwieweit das Widerstandsrecht des Art. 20 Abs. 4 GG berührt sein könnte.
Die Diskussion macht deutlich, dass es notwendig ist, die rechtliche Stellung des Widerstandsrechts zu präzisieren: Wann liegt eine echte Gefährdung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vor? Ab welcher Schwelle tritt das in Art. 20 Abs. 4 GG verankerte Recht als ultima ratio ein? Und wer ist zur Berufung auf dieses Recht legitimiert?
Gerade weil Art. 20 Abs. 4 GG seiner Natur nach als „wehrhafte Sicherung“ der verfassungsmäßigen Ordnung gedacht ist, muss strikt zwischen vorbeugender Kontrolle im Rahmen des Wahlrechts und dem äußersten Mittel des Widerstands unterschieden werden. Die nachfolgenden Ausführungen ordnen daher das Widerstandsrecht systematisch, historisch und dogmatisch ein und stellen die tatbestandlichen Voraussetzungen, die Schwelle seiner Auslösung sowie den Kreis der Berechtigten dar.
Dazu schreibt der Deutsche Bundestag auf seiner Seite:
Geschützt wird der Verfassungsstaat
Der Widerstandsartikel richtet sich an die Bürger …………….
„Sie sind das letzte Aufgebot zum Schutz der Verfassung. Wenn nichts anderes mehr hilft, drückt diese ihnen die Waffe des Widerstandsrechts in die Hand, um ihr eigenes Überleben zu sichern“, schreibt der Staatsrechtler Josef Isensee in seinem Aufsatz „Widerstandsrecht im Grundgesetz“ im 2013 erschienen „Handbuch Politische Gewalt“.
So setze das Widerstandrecht private Gewalt frei und durchbreche die Bürgerpflicht zum Rechtsgehorsam. Das Ziel: Es geht in Artikel 20 Absatz 4 um eine Nothilfe der Bürger zu dem Zweck, Angriffe auf die Verfassung und die grundgesetzliche Ordnung abzuwehren. Das Schutzgut ist damit eng umrissen: der Verfassungsstaat.
„Der Widerstandsfall ist ein Staatsstreich“
Doch in welchen Situationen ist der Widerstand durch Artikel 20 Absatz 4 legitimiert? Laut Isensee geht es um Angriffe, die sich gegen die Verfassung als Ganzes richten und die grundgesetzliche Ordnung als solche von Grund auf bedrohen. „Der Widerstandsfall ist ein Staatsstreich“, schreibt er.
Art. 20 Abs. 4 GG – Widerstandsrecht
Artikel 20 Abs. 4 GG normiert das verfassunggeberische „Recht zum Widerstand“ gegen jedwede Unternehmung, die die verfassungsrechtliche Ordnung beseitigen will. Er steht systematisch als Teil von Art. 20 GG am Ende der Staatsstrukturprinzipien und ist durch die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG geschützt. Die Staatsstrukturprinzipien in Art. 20 – Demokratie-, Rechtsstaat-, Sozial- und Bundesstaatsprinzip – sind gemäß Art. 79 Abs. 3 GG unantastbar[1]. Damit wird klargestellt, dass weder ihr Kerngehalt noch die sie rechtfertigende Rechtsordnung durch Verfassungsänderung aufgehoben werden darf[2]. Art. 20 GG verpflichtet nach herrschender Lehre und Rechtsprechung nicht nur die Staatsorgane, sondern auch die Bürger zur Erhaltung und Verteidigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung[2]. Das Widerstandsrecht erfüllt diesen Auftrag als ultima ratio: Es stellt eine wehrhafte Demokratie sicher, indem es allen Deutschen in äußersten Gefährdungslagen letztlich gestattet, sich gegen Verfassungsfeinde zur Wehr zu setzen[3][2].
Historischer Kontext (Notstandsgesetze 1968)
Das Widerstandsrecht wurde bei den umstrittenen Notstandsgesetzen 1968 eingeführt. Im Zuge der damaligen Verfassungsänderungen – die u.a. Befugnisse für innere und äußere Notstände erweiterten – wurde Art. 20 Abs. 4 als „Zuckerbrot“ zur Beruhigung der Kritik festgeschrieben[4][5]. Insbesondere galt es, Befürchtungen nach dem Vorbild der Weimarer Republik entgegenzutreten und der APO sowie den Gewerkschaften ein verfassungsrechtliches Gegengewicht anzubieten. Dürig/Herzog sowie Feststellungen späterer Autoren (etwa Isensee) sehen das Motiv in einer „Besänftigungsstrategie“: Man wollte durch das neue Grundrecht zu Freiheit und Demokratie den Einwand mildern, die Notstandsgesetze entführten zu sehr demokratische Rechte[5][4]. Nach bpb-Darstellung wurde im April/Mai 1968 formal beschlossen: „im Zuge der Notstandsgesetze wurde ein Recht auf ‚Widerstand‘ (Art. 20 Abs. 4 GG) festgelegt, das die Kritik der Gewerkschaften entkräften sollte“[4]. Mit dieser historischen Einordnung wird deutlich, dass das Widerstandsrecht als Reaktion auf eine innenpolitische Krise eingeführt wurde – als ultima ratio, falls demokratische Schutzmechanismen versagen sollten.
Funktion als ultima ratio zur Verteidigung der FDGO
Das Widerstandsrecht wirkt als letztes rechtliches Mittel (ultima ratio), wenn demokratische und rechtsstaatliche Mittel nicht mehr greifen. Es verankert die Wehrhaftigkeit der Demokratie: Jeder Deutsche darf sich dann wehren, wenn jemand versucht, die durch Art. 20 GG geschützte Ordnung (Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat, Bundesstaat) zu beseitigen und wenn kein anderes Rechtsmittel mehr hilft[3][5]. Nach der Kommentarliteratur ist Art. 20 Abs. 4 GG ausdrücklich als Ausdruck dieses ultima-ratio-Prinzips formuliert: Das Widerstandsrecht tritt erst an, „wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“[3][5]. Diese Kodifizierung spiegelt das Verständnis wider, dass Bürger im äußersten Krisenfall eine „rechtlich-konforme Selbsthilfe“ ausüben dürfen, wenn der Staat selbst handlungsunfähig oder unwillig geworden ist, den Verfassungsstaat zu bewahren[3].
Tatbestandliche Voraussetzungen und Schwelle des Widerstandsrechts
Nur unter sehr engen Voraussetzungen kann Art. 20 Abs. 4 GG greifen. Er verlangt ein konkretes, unmittelbar bevorstehendes Unternehmen zur Beseitigung der verfassungsmäßigen Ordnung[6]. Damit ist gemeint, dass eine gezielte, erhebliche Gefährdung der demokratischen Grundordnung vorliegen muss – etwa ein Staatsstreich, Putsch oder ein anderer verfassungskrimineller Akt durch Staatsorgane oder Machtträger, der darauf abzielt, die FDGO abzuschaffen. Der Widerstand darf sich nur gegen diejenigen richten, die diese Ordnung beseitigen wollen, nicht gegen Dritte oder etwa Verwaltungsmaßnahmen an sich[6].
Wesentliche Tatbestandsvoraussetzung ist außerdem die Subsidiaritätsklausel „wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“: Vor Inanspruchnahme des Widerstandsrechts müssen alle rechtlichen und politischen Schutzmechanismen ausgeschöpft oder aussichtslos sein[6][7]. Andere Rechtsbehelfe dürfen also kein wirksames Mittel mehr bieten. So hat das Bundesverfassungsgericht in 2 BvE 2/08 entschieden, das Widerstandsrecht sei ein „subsidiäres Ausnahmerecht“, das „als ultima ratio“ nur dann in Betracht komme, „wenn alle von der Rechtsordnung zur Verfügung gestellten Rechtsbehelfe so wenig Aussicht auf wirksame Abhilfe bieten, dass die Ausübung des Widerstandes das letzte Mittel zur Erhaltung oder Wiederherstellung des Rechts ist“[8]. Diese Rechtsprechung unterstreicht, dass das Widerstandsrecht nur in extremen Ausnahmefällen und als letztes Mittel zulässig ist[8][6].
Legitimation zur Ausübung: „alle Deutschen“
Empfänger des Widerstandsrechts sind explizit „alle Deutschen“ gemäß Art. 116 GG (also deutsche Staatsbürger)[3]. Das heißt, nur diejenigen, die im verfassungsrechtlichen Sinne deutsche Staatsangehörige sind, steht das Widerstandsrecht zu. In der Lehre wird gelegentlich diskutiert, ob auch Ausländer unter besonderen Umständen mitgemeint sein könnten, weil die FDGO letztlich allen in Deutschland Lebenden zugutekommt. Der Sprachgebrauch des Art. 20 Abs. 4 („alle Deutschen“) legt jedoch grundsätzlich eine Beschränkung auf deutsche Staatsbürger nahe[3]. In jedem Fall richtet sich der Widerstand gegen Akteure, die „diese Ordnung“ – also die durch Art. 20 GG geschützte, freiheitliche demokratische Grundordnung – beseitigen wollen, nicht etwa gegen den Staat schlechthin oder gegen einzelne staatliche Maßnahmen.
Justiziabilität und Status des Widerstandsrechts
Obwohl das Widerstandsrecht im Wortlaut an ein Recht aller richtet, spielt es im gerichtlichen Alltag kaum eine Rolle als einklagbare Norm. Es wird in der Literatur vielfach als „politisches Recht“ oder grundrechtsähnliches Recht charakterisiert, das nicht direkt vor Gerichten durchgesetzt wird, sondern vielmehr programmatisch die Selbstverteidigungsmöglichkeit der Bürger verankert. Das Bundesverfassungsgericht hat in 2 BvE 2/08 betont, dass eine Verletzung von Art. 20 Abs. 4 GG nicht in einem normalen Rechtsmittelverfahren geltend gemacht werden könne[9]. Konkret heißt das, dass man etwa eine Verfassungsbeschwerde nicht darauf stützen kann, weil die verfassungsmäßige Ordnung angeblich beseitigt worden sei – das Gericht spricht von einem „vorgelagerten Recht“, das gerade nicht einklagbar ist. In seinem Urteil stellte das BVerfG klar: „Eine Verletzung von Art. 20 Abs. 4 GG kann danach nicht in einem Verfahren gerügt werden, in dem gegen die behauptete Beseitigung der verfassungsmäßigen Ordnung gerade gerichtliche Abhilfe gesucht wird“[9]. Folglich besitzt Art. 20 Abs. 4 GG keine regelmäßig justiziable Wirkung wie ein klassisches Grundrecht; es bleibt eher ein „politisches Recht“, dessen konkrete Ausgestaltung und Zulässigkeit stärker durch politische und ethische Überlegungen als durch gerichtliche Normenkontrolle bestimmt sind.
Literaturauffassungen
Die maßgebliche Fachliteratur betont einhellig die strenge Ausgestaltung des Widerstandsrechts. Maunz/Dürig (GG-Kommentar) und Dürig/Herzog heben den subsidiären Charakter hervor und fordern einen engen Tatbestand (z. B. „Unternehmen“ zur Beseitigung der Ordnung) sowie Erschöpfung aller anderen Mittel. Jarass/Pieroth sehen es als grundrechtsähnliche Norm, die als letztes Mittel gegen Verfassungsfeinde dient. In allen Kommentaren wird übereinstimmend auf die föderal-demokratische Aufgabe verwiesen, auf deren Fundament das Recht auf Widerstand ruht. Keine der Standardauffassungen leitet daraus jedoch ein einklagbares Individualrecht ab; vielmehr wird Art. 20 Abs. 4 GG als Teil des Schutzsystems der FDGO verstanden, das primär den Schutz der Verfassung befördert[3][10].
Rechtsprechung
Die Bundesverfassungsgerichtsbarkeit hat das Widerstandsrecht bislang nur indirekt behandelt. Wichtigstes Urteil ist 2 BvE 2/08 (2009): Hier bekräftigte das Gericht den subsidiären Charakter des Widerstandsrechts und stellte fest, dass aus Art. 20 Abs. 4 GG ein „vorgelagertes Recht“ hervorgeht, das gegen sämtliche Handlungen gerichtet ist, die die nach Art. 79 Abs. 3 GG unveränderlichen Verfassungsgrundlagen (z.B. Demokratieprinzip, Föderalismus) ganz oder teilweise beseitigen[11]. In diesem Zusammenhang entschied das BVerfG, dass eine Verfassungsbeschwerde mit der Behauptung eines Widerstandsfalls nicht zulässig sei, solange noch andere rechtliche Abhilfen möglich sind[10].
Aus der Lissabon-Entscheidung – Rn 186:
Das Widerstandsrecht nach Art. 20 Abs. 4 GG ist ein subsidiäres Ausnahmerecht, das als ultima ratio von vornherein nur dann in Betracht kommt, wenn alle von der Rechtsordnung zur Verfügung gestellten Rechtsbehelfe so wenig Aussicht auf wirksame Abhilfe bieten, dass die Ausübung des Widerstandes das letzte Mittel zur Erhaltung oder Wiederherstellung des Rechts ist (vgl. zum Widerstandsrecht bereits BVerfGE 5, 85 <377>). Eine Verletzung von Art. 20 Abs. 4 GG kann danach nicht in einem Verfahren gerügt werden, in dem gegen die behauptete Beseitigung der ver- fassungsmäßigen Ordnung gerade gerichtliche Abhilfe gesucht wird. Daran ändert die Erwähnung des Art. 20 Abs. 4 GG in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG nichts. Der subsidiäre Charakter dieses Rechts bleibt von der Ausformung als – auch prozessual – grundrechtsgleiches Recht unberührt.
Soweit ersichtlich, existieren keine weiteren Entscheidungen, in denen das Widerstandsrecht selbst aktiv in Anspruch genommen wurde (etwa als Rechtfertigung für Handlungen). Die Rechtsprechung behandelt Art. 20 Abs. 4 GG vor allem als Maßstab normativer Prüfung (etwa im EU-Recht)[11], nicht als Klagegrund für Einzelpersonen.
Ein konkreter Anwendungsfall des Widerstandsrechts nach Art. 20 Abs. 4 GG wäre nur in einer extremen Ausnahmesituation denkbar – weit jenseits normaler politischer Konflikte oder behördlicher Entscheidungen.
Beispiele aus der juristischen Literatur:
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Staatsstreich / Militärputsch
– Wenn Regierung, Militär oder andere Machtträger die Verfassung außer Kraft setzen, das Parlament entmachten und freie Wahlen abschaffen.
– Klassisches Beispiel: ein Szenario ähnlich dem Kapp-Putsch 1920 oder der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933. -
Selbstauflösung der verfassungsmäßigen Ordnung durch Staatsorgane
– Wenn Bundestag oder Bundesregierung verfassungswidrig alle Grundrechte suspendieren und keine unabhängige Gerichtsbarkeit mehr besteht. -
Dauerhafte Unterdrückung durch eine verfassungsfeindliche Macht
– Wenn ein diktatorisches Regime die demokratische Grundordnung beseitigt hat und kein legaler Rechtsweg mehr offensteht (etwa im Fall einer dauerhaften Besatzungs- oder Terrorherrschaft).
Nicht erfasst:
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Streit über Wahlzulassungen in Gemeindeordnungen
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Verwaltungsakte, auch wenn sie als hart empfunden werden
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Politische Entscheidungen einer Regierung, die mit Mehrheit beschlossen wurden
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Verfassungswidrige Einzelakte, solange Gerichte oder Rechtsmittel zur Verfügung stehen
Schwelle: Art. 20 Abs. 4 GG gilt nur dann, wenn alle rechtsstaatlichen Abhilfen versagen oder nicht mehr existieren – also wenn Gerichte nicht mehr unabhängig entscheiden oder das Wahlrecht faktisch aufgehoben ist.
Quellenhinweise: Verfassungsrechtliche Ausführungen zum Widerstandsrecht finden sich in Standardkommentaren wie Maunz/Dürig/Herzog, GG Art. 20 IV, Jarass/Pieroth, GG Art. 20 Rn. 116 ff. Die genannten Rechtsprechungszitate stammen aus BVerfG, Beschluss v. 30. 6. 2009 – 2 BvE 2/08[10][11]. Geschichtliche Hintergründe zu den Notstandsgesetzen 1968 u.a. bei der Bundeszentrale für politische Bildung[4][5].
[1] Ewigkeitsklausel | bpb.de
https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/recht-a-z/323359/ewigkeitsklausel/
[2] [3] [6] Art. 20 GG – Verfassungsgrundsätze, Widerstandsrecht (Kommentar) | opinioiuris.de
https://opinioiuris.de/kommentar/gg/20
[4] Notstandsgesetze: Testfall für die Demokratie | Hintergrund aktuell | bpb.de
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2 Antworten
Fortsetzung:
Wenn man das GG als eine Gründung staatlicher Ordnung im Sinne der Hobbes’schen Beendigung des Naturzustands durch Herstellung eines Gewaltmonopols eines Staates versteht, wird es schwer verständlich, wie dieses GG sich ein Widerstandsrecht gegen es selbst einverleiben kann. Ich kann das nur als eine Inkonsistenz deuten, die sich unsere Verfassungsväter haben zu Schulden kommen lassen. Es ist nämlich aus meiner Sicht die Frage, wie dieser Widerstand gegen die Geltung von Staatlichkeit überhaupt begründet werden kann.
1. Nicht positiv, indem eine Berufung auf irgendeinen Zustand genutzt wird, der die Beseitigung des Gewaltmonopols rechtfertigen soll. Ein solcher Zustand kann ja nur einer sein, dem immer noch die Funktionsfähigkeit aller staatlichen Organe zugrundeliegt. Als ein Beispiel könnte man vielleicht die aktuell laufenden Verfahren gegen die Reichsbürger, scherzhaft ‚Rollator-Revolutionäre‘ genannt, betrachten. Ihnen werden umstürzlerische Bestrebungen, die sich ggf. auf ein Widerstandsrecht berufen, zur Last gelegt. Sollte ihnen schuldhaftes Verhalten nachgewiesen werden, wird der Rechtsstaat die Härte des Gesetzes gegen diejenigen anwenden, die die Grundlagen unseres Staates zu zerstören bemüht sind.
2. Es muss also eine Norm Begründungsinstanz sein, die dem positiven Zustand kontrafaktisch gegenübersteht. Diese Norm müsste also den positiven Zustand als etwas erweisen, das vorausgesetzte Normen verletzt. Die Frage ist, wie das funktionieren kann. Selbst ein Philosoph wie Ernst Tugendhat hat es als ausgeschlossen bezeichnet, eine universale Geltung selbst von Menschenrechten vorauszusetzen. Er argumentiert, dass die Begründung der Geltung von Menschenrechten nur dezisionistisch verfahren kann, indem z.B. vorausgesetzt wird, dass nur eine solche staatliche Ordnung als legitim angesehen werden kann, die die Geltung von Menschenrechten gewährleistet. Das ist deswegen interessant und führt in tiefgriefende Begründungsprobleme, weil es zeigt, dass offensichtlich nirgendwo wirklich fester Boden unter die Füße zu bekommen ist, sondern dass es unausweuichlich dabei bleibt, dass Normen ihre Geltung Vereinbarungen verdanken, auf die sich Mehrheiten jeweils stützen.
Das ist ein ziemlich interessanter Punkt, weil er einer ist, der ein so auf das Grundsätzliche zielender ist. Daher möchte ich einige grundlegende Überlegungen voranstellen.
Wenn ein grundgesetzlich verbrieftes Widerstandsecht eingeräumt wird, so ist das ein solches, das sich gegen solche richtet, die sich anmaßen, entgegen den Struktur gebenden Normen des GG dieses so zu interpretieren, dass sie weiterhin eine staatliche Ordnung repräsentieren, die allerdings nicht den strukturellen Formen entspricht, die das GG fordert. Das hat zur Folge, dass de iure ein Recht nicht mehr besteht, das de facto in Anspruch genommen wird, nämlich jemand zu sein, der Legitimität und Legalität seines Handeln im Sinne des GG behauptet.
Sollte die beschriebene Konstellation annähernd richtig den grundgesetzlich beschriebenen Zustand wiedergeben, zeigt das bereits das Ausmaß an Schwierigkeiten, die durch Art. 20 Abs 4 GG, geschaffen werden. Er ist nahezu unanwendbar.
Das wird durch folgende Überlegungen untermauert. Platon hat Sokrates in den Rahmenkapiteln des Dialogs ‚Kriton‘ das sogenannte ontologische Argument zur Begründung der Legitimität staatlicher Ordnung vortragen lassen. Auf die Frage seiner Freunde, aus welchen Gründen Sokrates sich weigere, ein gegen ihn verhängtes, zumindest illegitimes, Todesurteil durch Flucht zu missbilligen, antwortet er sinngemäß, dass die Gesetze, die dieses Urteil herbeigeführt hätten, dasjenige seien, was in der Polis Athen ihn zu dem gemacht hätte, was er ist. Gegen diese Gesetze und damit gegen diesen Staat zu handeln, sei gleichbedeutend mit einer Selbstzerstörung.
Dieses Argument gegen die Inanspruchnahme eines Widerstandsrechts wird durch die grundlegenden Überlegungen von Thomas Hobbes in seinem ‚Leviathan‘ unterstützt. Wer als ‚Staatsgründer‘ fungiert, weil er sein Recht auf alles, das den Naturzustand verkörpert, an jeden anderen übergibt (das ist der zentrale Gedanke) schafft ein Gewaltmonopol, das nur noch durch Organe in Anspruch genommen werden darf, deren Handeln strukturell und faktisch streng kontrolliert wird. Das ist die große Errungenschaft stattlicher Ordnung, die uns als Ersatz dafür, dass wir in Anspruch nehmen, unsere Angelegenheiten selbst zu regeln, Schutz vor Gewaltanwendung und Freiheit verspricht. Wer dieses Gewaltmonopol in Frage stellt, spielt mit dem Feuer. Solange staatliche Ordnung existiert und ihre gesetzlichen Ansprüche geltend macht, werden alle diejenigen, die das Gewaltmonopol brechen, durch die Härte des Gesetzes getroffen, sofern Richter dieses anwenden.
Das alles zeigt, dass es kaum vorstellbar ist, dass Art. 20 Abs. 4 GG irgendeinmal legitimerweise anwendbar ist, zumal unsere Verfassung aus Weimarer Fehlern gelernt hat. So wurde Hitlers Aufstieg bis hin zum Ermächtigungsgesetz, das letztlich der Totengräber der republikanischen Ordnung gewesen ist, durch die Jahre zuvor schon praktizierten Präsidialkabinette, mit deren Hilfe der Reichstag de facto ausgehebelt wurde, ermöglicht.
Solcherlei ist heute nicht mehr möglich. Die Gefahren, denen wir heute ausgesetzt sind, sind meines Erachtens andere, z.B. die, dass eine vierte Gewalt, die Presse, möglicherweise nicht mehr die Unabhängigkeit besitzt, die von ihr verfassungsgemäß gefordert wird. Zu dieser Bemerkung allerdings würde der alte Briest wohl sagen: ‚Das ist ein weites Feld, Luise.‘