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Entziehung der deutschen Staatsangehörigkeit – Rechtslage 2025

Arbeitsrecht – Erbrecht - Kommunalrecht

Entziehung der deutschen Staatsangehörigkeit – Rechtslage 2025

Grundgesetz

Tagesschau.de: Deutschen Sicherheitsbehörden ist es in dieser Woche offenbar gelungen, ein mutmaßliches Attentat mit Schusswaffen in Deutschland zu verhindern. Die Verdächtigen sollen im Auftrag der palästinensischen Terrororganisation Hamas gehandelt haben. Die Spur der Waffen führt offenbar zur Organisierten Kriminalität nach Skandinavien.

Nach derartigen Meldungen kommt immer wieder die Frage nach dem Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit auf – eine Analyse:

Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht bewegt sich in einem sensiblen Spannungsfeld: Einerseits schützt Artikel 16 Absatz 1 Satz 1 GG die Staatsangehörigkeit als grundlegende Statuszugehörigkeit – sie „darf nicht entzogen werden“. Andererseits enthält dasselbe Grundgesetz in Satz 2 die Einschränkung, dass ein Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit gegen den Willen des Betroffenen nur dann zulässig ist, wenn dadurch keine Staatenlosigkeit eintritt. In der Praxis bedeutet dies: Ein Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit ist nur unter eng begrenzten gesetzlichen Voraussetzungen möglich, und zwar typischerweise gegenüber Mehrstaatlern, bei Vorliegen gravierender Rechtsverstöße (z. B. Terrorismus, Spionage etc.) und nur dann, wenn eine andere Staatsangehörigkeit besteht.

 


Verfassungsrechtliche Grundlagen

Art. 16 Abs. 1 Grundgesetz (GG)

(1) Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden. Der Verlust der Staatsangehörigkeit darf nur auf Grund eines Gesetzes und gegen den Willen des Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird.
(2) Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden. Durch Gesetz kann eine abweichende Regelung für Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder an einen internationalen Gerichtshof getroffen werden, soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind.

Art. 16 Abs. 1 GG bestimmt, dass die deutsche Staatsangehörigkeit nicht entzogen werden darf. Ein Verlust darf nur auf Grund eines Gesetzes erfolgen und ist gegen den Willen des Betroffenen nur zulässig, wenn die betroffene Person dadurch nicht staatenlos wird[1]. Das Grundgesetz unterscheidet damit:

  • Entziehung (Ausbürgerung): eine zwangsweise Aberkennung der Staatsangehörigkeit ohne Mitwirkung des Betroffenen. Diese ist verfassungsrechtlich ausgeschlossen.
  • Verlust der Staatsangehörigkeit: der Untergang kraft Gesetzes infolge eines bestimmten Verhaltens oder einer Erklärung des Betroffenen (z. B. Beantragung einer ausländischen Staatsangehörigkeit). Dieser ist zulässig, sofern ein Gesetz eine Verlusttatbestands regelt und der Verlust nicht zu Staatenlosigkeit führt[1].

Art. 16 GG steht in engem Zusammenhang mit dem völkerrechtlichen Verbot willkürlicher Ausbürgerung (Art. 15 Abs. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und Art. 8 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention). Diese Normen untersagen Arbiträrität und Diskriminierung bei Verlusttatbeständen[2]. Das Verfassungsgericht hat mehrfach klargestellt, dass § 28 StAG nur deshalb zulässig ist, weil er an freiwillige, dem Einzelnen zurechenbare Handlungen anknüpft und eine Staatenlosigkeit ausschließt.

Rechtliche Grundlagen im Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG)

Die für den Verlust der Staatsangehörigkeit einschlägigen Vorschriften finden sich in den §§ 17 bis 29 StAG. Eine Entziehung im engeren Sinne gibt es nicht, es handelt sich stets um gesetzlich geregelte Verlusttatbestände.

§ 17 Abs. 1 StAG – Allgemeine Verlustgründe

  • 17 Abs. 1 StAG nennt die gesetzlich geregelten Fälle des Verlustes der deutschen Staatsangehörigkeit:
  • Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit auf Antrag (mit Genehmigungserfordernis) oder Verzicht (Entlassung)[3].
  • Verzicht auf die deutsche Staatsangehörigkeit (§ 26 StAG), Adoption als Minderjähriger (§ 27 StAG)[3].
  • Eintritt in einen ausländischen Militär- oder vergleichbaren Dienst ohne Genehmigung (§ 28 Abs. 1 Nr. 1 StAG)[4].
  • Teilnahme an Kampfhandlungen einer terroristischen Vereinigung im Ausland (§ 28 Abs. 1 Nr. 2 StAG)[4]. Diese Norm wurde 2019 eingefügt und ist der zentrale Verlustgrund für Terrorfälle.

Der Verlust tritt jeweils „kraft Gesetzes“ ein; die Behörde stellt den Verlust lediglich fest[5]. Minderjährige sind von § 28 StAG ausgenommen[4]. Staatenlosigkeit muss vermieden werden, weshalb eine andere Staatsangehörigkeit zwingend ist[1].

§ 28 StAG – Eintritt in fremde Streitkräfte oder terroristische Vereinigungen

  • 28 StAG unterscheidet zwei Tatbestände:

Tatbestand

Rechtliche Folge

Einschränkungen

1. Eintritt in die Streitkräfte oder einen vergleichbaren bewaffneten Verband eines Staates, dessen Staatsangehörigkeit die Person besitzt, ohne Zustimmung des Bundesministeriums der Verteidigung (§ 28 Abs. 1 Nr. 1 StAG)

Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes

Keine Anwendung, wenn der Dienst auf Grund eines völkerrechtlichen Vertrages oder einer ausländischen Wehrpflicht erfolgt[4]. Minderjährige sind ausgenommen.

2. Teilnahme an Kampfhandlungen einer terroristischen Vereinigung im Ausland (§ 28 Abs. 1 Nr. 2 StAG)

Verlust der Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes

Verlust tritt nur ein, wenn eine weitere Staatsangehörigkeit vorhanden ist. Minderjährige sind ausgenommen[4].

Der Gesetzgeber definierte „terroristische Vereinigung“ als eine Vereinigung, die planmäßig terroristische Straftaten (§§ 129a, 129b StGB) begeht. Nach der Begründung zum Gesetz zielt die Regelung auf sog. „IS‑Kämpfer“ ab; sie darf nicht rückwirkend angewendet werden[6]. Die Teilnahme umfasst das aktiv kämpferische Mitwirken an Gefechten. Bloße Unterstützung, Ausbildung oder Propaganda reichen nicht aus[7].

Fallkonstellationen

1. Beteiligung an terroristischen Vereinigungen

  • Gesetzliche Grundlage:28 Abs. 1 Nr. 2 StAG. Erfasst wird die aktive Teilnahme an Kampfhandlungen einer terroristischen Vereinigung im Ausland[4].
  • Voraussetzungen: (1) die Person muss neben der deutschen eine weitere Staatsangehörigkeit besitzen, (2) sie nimmt freiwillig an Kampfhandlungen teil, (3) sie ist volljährig und (4) der Verlust darf keine Staatenlosigkeit bewirken[4]. Eine bloße Unterstützung oder Mitgliedschaft reicht nicht; es muss an Kampfhandlungen teilgenommen werden[7].
  • Verfahren: Der Verlust tritt automatisch ein; das Bundesverwaltungsamt oder die Landesbehörde stellt den Verlust durch Bescheid fest. Bei Personen im Ausland gibt es kein Widerspruchsverfahren; ein verwaltungsgerichtliches Verfahren hat keine aufschiebende Wirkung[4]. Die Beweisführung ist schwierig; Behörden müssen die Teilnahme an konkreten Gefechten nachweisen[5].
  • Bekannte Fälle: Seit Inkrafttreten (9. August 2019) sind nur wenige Fälle öffentlich bekannt. 2021 meldeten Medien, dass mehreren IS‑Kämpfern aus Deutschland, die sich in Nordsyrien aufhielten, die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen wurde. Die Identitäten werden aus Datenschutzgründen nicht veröffentlicht. Fachberichte betonen, dass Beweise für die Teilnahme an Kampfhandlungen schwer zu erheben seien und Verfahren sich daher hinziehen[7]. Die meisten Verfahren sollen sich auf Personen beziehen, die sich weiterhin im Ausland befinden.

2. Begehung von Terroranschlägen

  • Gesetzliche Grundlage: Es existiert derzeit keine eigenständige Regelung, die den Verlust der Staatsangehörigkeit an die Begehung von Terroranschlägen im Inland knüpft. Nur die Teilnahme an Kämpfen im Ausland ist nach § 28 StAG erfasst.
  • Verfassungsrechtliche Bewertung: Der Entzug der Staatsangehörigkeit als Strafe für eine Straftat würde Art. 16 GG widersprechen, weil es sich um eine Entziehung und nicht um einen Verlust infolge einer freiwilligen Handlung handelt[9]. Die Bundesregierung betont, dass ein genereller Verlusttatbestand für terroristische Straftaten verfassungswidrig wäre[9].
  • Legislative Initiativen: Verschiedene politische Parteien fordern, Terroristen auch bei Taten im Inland die Staatsangehörigkeit zu entziehen. Bisher fehlen jedoch verfassungskonforme Vorschläge. Das BMI sieht keine Möglichkeit, Art. 16 GG zu ändern, und verweist auf die Möglichkeit des Freiheitsentzugs und anderer Strafmaßnahmen.

3. Spionage zugunsten eines fremden Staates

  • Gesetzliche Grundlage: Die gegenwärtige Rechtslage kennt keinen Verlusttatbestand für Spionage. Weder § 28 StAG noch andere Vorschriften verknüpfen Spionagehandlungen mit dem Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit.
  • Verfassungsrechtlicher Rahmen: Auch hier gälte das Entziehungsverbot des Art. 16 GG. Ein Gesetz, das den Verlust der Staatsangehörigkeit an eine Spionageverurteilung knüpft, müsste eine freiwillige Handlung voraussetzen (z. B. freiwilliger Anschluss an den Sicherheitsapparat eines anderen Staates). Eine strafbare Spionagehandlung erfüllt diese Voraussetzung nicht[9].
  • Aktuelle Debatte: Angesichts jüngster Spionagefälle wurde in der Politik diskutiert, Doppelstaatlern den Pass zu entziehen. Verfassungsjuristen warnen, dass dies kaum zulässig wäre, da eine einmalige Straftat nicht als freiwilliges Sich-Verbinden mit einem anderen Staat betrachtet werden könne und das Willkürverbot zu beachten sei[2].

4. Mord im Zusammenhang mit staatsgefährdenden oder ideologisch motivierten Straftaten

  • Gesetzliche Grundlage: Kein Verlusttatbestand. Mord ist zwar eine schwere Straftat; jedoch steht die Strafverfolgung im Vordergrund. Ein Verlust der Staatsangehörigkeit als Nebenfolge wäre wegen Art. 16 GG unzulässig[9].
  • Entwicklungen: Extremistische Anschläge und ideologisch motivierte Tötungsdelikte haben zu Forderungen geführt, Doppelstaatler zu „ausbürgern“. Die Bundesregierung und verfassungsrechtliche Literatur lehnen dies ab, da Mord nicht mit einem freiwilligen Abwenden vom deutschen Staat gleichzusetzen ist. Das Strafrecht soll die Tat ahnden, nicht das Staatsangehörigkeitsrecht.

Verfahrensrecht und Zuständige Behörden

  • Behörden: Für den Vollzug des Staatsangehörigkeitsrechts sind die Staatsangehörigkeitsbehörden der Länder zuständig; dies können Landesverwaltungsämter, Regierungspräsidien oder Kreisverwaltungen sein. Das Bundesverwaltungsamt führt das Register und erteilt im Einzelfall Genehmigungen (z. B. für den Eintritt in fremde Streitkräfte). Das Bundesministerium des Innern (BMI) erarbeitet Anwendungshinweise (Stand 1. Mai 2025 – nicht frei zugänglich). Bei Verdacht auf Verlust nach § 28 StAG wirken Sicherheitsbehörden (Bundesnachrichtendienst, Verfassungsschutz, Bundespolizei) mit.
  • Verfahren: Der Verlust nach § 28 StAG tritt automatisch ein, sobald die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Die Behörde stellt den Verlust mit einem Verlustfeststellungsbescheid fest[4]. Für im Ausland befindliche Personen entfällt das Widerspruchsverfahren, Klagen haben keine aufschiebende Wirkung[4]. Die betroffene Person kann vor den Verwaltungsgerichten Rechtsschutz suchen; die Erfolgsaussichten sind wegen der Tatbestandsvoraussetzungen gering.
  • Beweislast: Die Behörde muss die tatsächliche Teilnahme an Kampfhandlungen nachweisen[5]. Dazu werden Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden, Zeugenaussagen und Bildmaterial herangezogen. Bei Eintritt in fremde Streitkräfte genügt der Nachweis des freiwilligen Dienstes ohne Genehmigung.

 


Verfassungsrechtliche Voraussetzungen der Aberkennung von Grundrechten nach Art. 18 GG

Einordnung und Zweck des Art. 18 GG

Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Abs. 1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Abs. 3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen.

Art. 18 GG ist Teil des Konzepts der wehrhaften Demokratie. Der Artikel erlaubt in Ausnahmefällen, dass die Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Inanspruchnahme bestimmter Grundrechte – namentlich Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1), Versammlungsfreiheit (Art. 8), Vereinigungsfreiheit (Art. 9), Brief‑, Post‑ und Fernmeldegeheimnis (Art. 10), Eigentum (Art. 14) und Asylrecht (Art. 16a) – aberkennt, wenn die Rechte „zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“ missbraucht werden[1]. Durch die Norm soll verhindert werden, dass Einzelne die gewährten Freiheiten nutzen, um die Grundstrukturen der Verfassung anzugreifen und zu beseitigen. Die freiheitliche demokratische Grundordnung (FDGO) umfasst nach ständiger Rechtsprechung die Grundsätze der Menschenwürde, Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Verantwortlichkeit der Regierung, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Unabhängigkeit der Gerichte, Mehrparteienprinzip und Chancengleichheit der Parteien[2].

Voraussetzungen der Aberkennung

Art. 18 GG knüpft die Grundrechtsverwirkung an mehrere verfassungsrechtliche Voraussetzungen, die in der Rechtsprechung des BVerfG konkretisiert wurden:

Missbrauch der enumerierten Grundrechte

  • Das betroffene Grundrecht muss missbraucht werden, um die FDGO zu bekämpfen. Ein „Missbrauch“ im Sinne des Art. 18 GG ist kein eigener Tatbestand; er liegt vor, wann immer eine der genannten Freiheiten zum Kampf gegen die Verfassungsordnung eingesetzt wird[3]. Es reicht nicht aus, eine verfassungsfeindliche Meinung zu äußern; erforderlich ist ein zielgerichteter Angriff auf die FDGO. Kritische oder ablehnende Meinungsäußerungen ohne Kampfelement genügen nicht.
  • Die Norm erfasst nur die in Art. 18 Satz 1 ausdrücklich genannten Grundrechte. Ein Ausweichen auf andere Grundrechte ist nicht möglich; allerdings bleibt z. B. das Instrument des Parteien‑ oder Vereinsverbots aus Art. 21 Abs. 2 bzw. Art. 9 Abs. 2 GG weiterhin anwendbar.

Gegenwärtige und zukünftige Gefahr

  • Die Grundrechtsverwirkung dient der Gefahrenabwehr. Das BVerfG hat hervorgehoben, dass eine fortdauernde oder zukünftige Gefahr für die FDGO vorliegen muss; Vergangenes allein reicht nicht, sondern dient nur als Indiz[4][5]. Diese Gefahr kann sowohl von der Person als auch – bei juristischen Personen – von der Organisation ausgehen. Der Antragsteller muss konkrete Umstände darlegen, aus denen sich die fortbestehende Gefährlichkeit ergibt[4].
  • Die Gefahr muss potentiell realisierbar Das Gericht betont, dass es nicht ausreicht, wenn die Person lediglich eine verfassungsfeindliche Haltung hat; vielmehr muss die Person nach ihrer Person und Stellung die Möglichkeit haben, ihre verfassungsfeindlichen Ziele durchzusetzen. Im NPD‑Verbotsverfahren hat das BVerfG ausgeführt, dass selbst legale Mittel (z. B. politische Mandate) gefährlich sein können, wenn dadurch anti‑verfassungsrechtliche Ziele erreicht werden könnten[6].

Ultima-Ratio-Grundsatz und Verhältnismäßigkeit

  • Die Verwirkung ist ultima ratio: Sie kommt nur in Betracht, wenn mildere Mittel (z. B. Strafrecht, Vereinsverbot, Beobachtung durch Sicherheitsbehörden) nicht ausreichen, um die Gefahr abzuwehren[3].
  • Sie muss verhältnismäßig Das Gericht kann den Entzug auf einzelne Rechte und einen bestimmten Zeitraum begrenzen. Es hat hervorgehoben, dass eine Verwirkung mindestens ein Jahr dauern, aber zeitlich befristet und im Umfang konkretisiert werden kann[7].

Persönlicher Geltungsbereich

  • Natürliche Personen können ihre Grundrechte verlieren, wenn sie sie missbrauchen; bei juristischen Personen ist gemäß Art. 19 Abs. 3 GG eine Verwirkung nur möglich, wenn das entsprechende Grundrecht ihnen von vornherein zusteht (z. B. Vereins‑ oder Eigentumsfreiheit).
  • Wegen des Subsidiaritätsprinzips treten bei politischen Parteien Art. 21 Abs. 2 GG (Parteiverbot) oder bei Vereinen Art. 9 Abs. 2 GG (Vereinsverbot) meist als vorrangige Instrumente auf[8].

Antragsberechtigung und Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht

Antragsberechtigte

Art. 18 Satz 2 bestimmt, dass die Verwirkung nur auf Antrag festgestellt wird. Antragsberechtigt sind gemäß § 36 BVerfGG:

  1. Bundestag (bei nicht beschlussfähigem Plenum ist der Bundestagspräsident mit Zustimmung des Ältestenrates berechtigt);
  2. Bundesregierung;
  3. Landesregierungen[8].

Ein Antrag muss die Tatsachen darlegen, aus denen sich Missbrauch und künftige Gefährlichkeit ergeben. Der Antragsgegner erhält Gelegenheit zur Stellungnahme.

Verfahren und Entscheidung

  • Zuständig ist der Zweite Senat des BVerfG. Die Entscheidung ergeht mit der für Verfassungsstreitigkeiten üblichen Besetzung (acht Richterinnen und Richter).
  • Das Verfahren umfasst ein Vorverfahren: Das Gericht prüft den Antrag und kann Ermittlungen durchführen, z. B. Durchsuchungen oder Beschlagnahmen nach strafprozessualen Vorschriften[9].
  • Erscheint der Antrag offensichtlich unbegründet, kann der Senat den Antrag ohne mündliche Verhandlung verwerfen. Andernfalls findet eine mündliche Verhandlung
  • Das Gericht entscheidet durch Urteil. Es bestimmt Umfang und Dauer der Verwirkung (mindestens ein Jahr). Dabei kann es die Inanspruchnahme aller oder nur einzelner Rechte beschränken; für juristische Personen kann das Gericht zusätzlich die Auflösung oder ein Tätigkeitsverbot anordnen[10].
  • Aufhebung: Nach Ablauf von zwei Jahren kann der Antragsgegner oder der Antragsteller beantragen, die Verwirkung aufzuheben. Das BVerfG prüft erneut, ob die Voraussetzungen fortbestehen[11].

Verfassungsrechtliche Schutzmechanismen

  • Rechtsstaatliche Verfahrensgarantien: Der Entzug von Grundrechten ist dem BVerfG vorbehalten, das als unabhängiges Verfassungsorgan entscheidet. Das Verfahren ist kontradiktorisch, und der Betroffene kann sich äußern.
  • Begrenzter Umfang: Die Verwirkung erfasst nur die Geltendmachung der Grundrechte gegenüber dem Staat; der Betroffene bleibt weiter Inhaber der Grundrechte, kann sie aber im Verhältnis zum Staat nicht geltend machen[7]. Das BVerfG hat betont, dass der Staat trotz Verwirkung an den Willkürverbot und die Menschenwürde gebunden bleibt[12].
  • Anpassung an Gefahr: Die Entscheidung kann zeitlich und sachlich begrenzt werden. Ihre Kontrolle durch das Gericht (mit Möglichkeit zur Aufhebung) verhindert eine dauerhafte Entrechtung ohne erneute Prüfung.
  • Subsidiarität gegenüber anderen Instrumenten: Häufig greifen Art. 21 Abs. 2 (Parteiverbot), Art. 9 Abs. 2 GG (Vereinsverbot) oder das Strafrecht eher. Diese Mechanismen lassen die Verwirkung als letztes Mittel erscheinen, was die Gefahr eines grundrechtsfeindlichen Missbrauchs reduziert.

Anwendungsfälle in der Praxis

Die Norm ist in der Praxis kaum angewendet worden. Seit Inkrafttreten des Grundgesetzes wurden vier Verfahren eingeleitet, kein einziges endete mit einer Verwirkung.

1960: Otto Ernst Remer (BVerfGE 11, 282)

Die Bundesregierung beantragte den Entzug der Meinungs‑, Versammlungs‑ und Vereinigungsfreiheit von Otto Ernst Remer, einem ehemaligen Wehrmachtsmajor und Vorsitzenden der 1952 verbotenen rechtsextremen SRP. Das BVerfG wies den Antrag ab, weil keine neuen Erkenntnisse über eine fortdauernde Gefahr vorlagen. Remer hatte sich aus der Politik zurückgezogen; bloße vergangene Aktivitäten genügten nicht[5].

1974: Gerhard Frey (BVerfGE 38, 23)

Der Bundesregierung beantragte, dem rechtsextremen Publizisten Gerhard Frey (Deutsche National‑Zeitung) und seiner Firma die Meinungs‑, Presse‑, Versammlungs‑ und Vereinigungsfreiheit zu entziehen. Das BVerfG betonte, dass Art. 18 GG eine präventive Maßnahme sei und dass die Bundesregierung eine gegenwärtige und künftige Gefahr nachweisen müsse. Da Freys Publikationen kaum politische Wirkung zeigten und keine konkreten Anhaltspunkte für künftige Gefährlichkeit vorlagen, wurde der Antrag abgelehnt[4].

1990er Jahre: Verfahren gegen Reisz und Dienel

In den 1990er Jahren beantragten die Bundesregierung bzw. die Landesregierung Thüringen die Verwirkung der Grundrechte gegen die Neonazis Heinz Reisz (1992) und Thomas Dienel (1996). Beide Verfahren wurden im Vorverfahren eingestellt, da die Anträge unzureichend begründet waren. Es existieren nur knappe Pressemitteilungen; das BVerfG sah die Anforderungen an eine fortdauernde Gefahr offensichtlich nicht erfüllt[13].

Ergebnis und Statistik

Alle vier Anträge betrafen rechtsextreme Einzelpersonen. Die Verfahren endeten ohne Verwirkung; das BVerfG stellte hohe Anforderungen an die Darlegung einer fortdauernden Gefährlichkeit. Es existieren somit keine Fälle, in denen Grundrechte nach Art. 18 GG tatsächlich aberkannt wurden[13]. Die Norm hat dadurch hauptsächlich symbolische Bedeutung.

Verfassungsrechtliche Diskussion

Kritikpunkte

  1. Praktische Bedeutungslosigkeit: Aufgrund der strengen Anforderungen (gezielter Kampf, fortdauernde Gefahr) und der Subsidiarität gegenüber Partei‑ und Vereinsverboten sowie dem Strafrecht wird Art. 18 GG selten genutzt. Fachliteratur und Medien bezeichnen die Norm als „praktisch nutzlos“[14][15].
  2. Komplexes Verfahren: Da das BVerfG allein zuständig ist und das Verfahren quasi‑strafrechtliche Züge hat, sind die Hürden hoch und dauern Verfahren lange. Eine separate Instanz oder ein mehrstufiges Verfahren wurde vorgeschlagen, um die Rechtsschutzmöglichkeiten zu verbessern[16].
  3. Unscharfe Tatbestandsmerkmale: Die Begriffe „Missbrauch“ und „Kampf gegen die FDGO“ sind auslegungsbedürftig. Kritiker betonen, dass eine Grenzziehung zwischen radikaler Kritik und verfassungsfeindlichem Kampf schwierig ist.
  4. Geringe Wirksamkeit gegen organisierte Angriffe: 18 GG richtet sich gegen Einzelpersonen. Die Bedrohung der Demokratie geht heute häufig von organisierten Gruppen aus, sodass das Parteien‑ oder Vereinsverbot oder das Strafrecht wirksamer sind[13].

Verfassungsrechtliche Diskussion und Reformvorschläge

  • Ausweitung auf weitere Grundrechte: Teilweise wird vorgeschlagen, das Recht der Religionsfreiheit aufzunehmen; Kritiker halten dies für unvereinbar mit dem hohen Rang dieses Rechts und sehen angesichts der bisherigen Untätigkeit von Art. 18 keine Notwendigkeit[15].
  • Verbesserte Anwendbarkeit: Angeregt wird, die Zuständigkeit für die Verwirkung auf spezielle Senate oder ein neu zu schaffendes Gericht zu übertragen, um Verfahrenshindernisse zu reduzieren[16].
  • Fokus auf präventiven Gefahrenbegriff: Neuere verfassungsrechtliche Diskussionen (z. B. im NPD‑Verbotsverfahren 2017) betonen, dass der Staat auch gegen verfassungsfeindliche Akteure vorgehen darf, die rechtliche Mittel nutzen, wenn sie das Potential besitzen, die FDGO zu beseitigen[6]. Dies beeinflusst auch die Auslegung des Art. 18 GG.

Art. 18 GG erlaubt dem BVerfG, die Geltendmachung einzelner Grundrechte aberkennen, wenn eine Person oder juristische Person diese Rechte zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht. Die Voraussetzungen sind streng: Es bedarf eines gezielten, fortdauernden Angriffs auf die FDGO und einer aktuellen sowie zukünftigen Gefährdung. Der Entzug ist ultima ratio und unterliegt dem Verhältnismäßigkeitsprinzip; der Umfang und die Dauer werden durch das BVerfG bestimmt und können nach zwei Jahren überprüft werden. In der Praxis wurde die Norm in vier Fällen gegen rechtsextreme Einzelpersonen angerufen; das BVerfG hat jedoch bislang keinen Entzug ausgesprochen, da die Darlegung einer fortdauernden Gefahr stets fehlte[13]. Wegen seiner geringen Anwendbarkeit, unscharfer Tatbestandsmerkmale und der Existenz wirksamerer Instrumente wird Art. 18 GG überwiegend als symbolisches „Schwert“ der wehrhaften Demokratie bewertet, das vor allem präventiv wirken soll und in der verfassungsrechtlichen Diskussion regelmäßig Kritik und Reformvorschläge hervorruft.

 

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