Wachstumsagenda für Deutschland

Gutachten des wissenschaftlichen Beraterkreises für evidenzbasierte Wirtschaftspolitik
beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie
Eine Wachstumsagenda für Deutschland – neue Ansätze zwischen Ordnungspolitik und Zukunftsstrategie
Analyse auf Grundlage des Gutachtens von Grimm, Haucap, Kolev und Wieland (Wissenschaftlicher Beraterkreis für evidenzbasierte Wirtschaftspolitik beim BMWK, September 2025)
1. Diagnose: Deutschland im Rückstand
Deutschland stagniert seit 2021 – das reale BIP liegt auf dem Niveau von 2019. Während die USA seitdem über 12 % gewachsen sind, blieb Deutschland bei 0,2 %. Auch Nachbarländer wie Dänemark, die Schweiz oder die Niederlande zeigen deutlich höhere Dynamik, niedrigere Staatsverschuldung und bessere Infrastruktur.
Der Strukturwandel läuft hierzulande schleppend: Industrieproduktion schrumpft, während unproduktive Sektoren wie Verwaltung und Pflege expandieren. Private Investitionen sind seit 2019 um mehr als 8 % gesunken.
Zentrale Ursachen sind:
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Technologiedefizite: Deutschland ist in der „Mid-Tech-Falle“ gefangen; wenig Hightech, kaum Grundlageninnovation.
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Regulierungsüberlastung: Überbordende Bürokratie hemmt Reallokation und Innovationsdynamik.
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Fehlgeleitete Industriepolitik: Staatliche Förderung schützt etablierte Großunternehmen statt neuen Ideen Raum zu geben.
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Demografie und Sozialstaat: Hohe Sozialausgaben und steigende Lohnnebenkosten bremsen Wettbewerbsfähigkeit.
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Wohnungsmarktverzerrung: Mietpreisregulierung erstickt Investitionen und Mobilität.
2. Neue Ansätze der „Therapie“ – eine ordnungspolitische Agenda
Das Gutachten fordert eine Rückkehr zur Ordnungspolitik im Sinne Ludwig Erhards, mit fünf strategischen Hebeln:
a) Innovation und Reallokation statt Bewahrung
Wachstum entsteht durch Strukturwandel. Staatliche Politik soll Wandel ermöglichen, nicht steuern. Innovationen müssen marktwirksam werden – Genehmigungen, Planungsrecht und Wettbewerb sollen dies beschleunigen.
b) Resilienz als Wachstumsfaktor
Resilienz bedeutet Anpassungsfähigkeit. Eine moderne Wirtschaftspolitik muss Bürokratie abbauen, Wettbewerbsmechanismen stärken und Kapital wie Arbeit schneller in produktive Felder umlenken können.
c) Wettbewerbsordnung vor Staatslenkung
Die Autoren kritisieren eine „Zielsteuerungspolitik“, die Branchen bevorzugt (z. B. E-Mobilität, Wasserstoff), statt Wettbewerb zuzulassen. Marktprozesse seien das zentrale Entdeckungsverfahren für Innovation.
d) Gesellschaftlicher Rückhalt für Unternehmertum
Deutschland brauche wieder ein Klima der Risikobereitschaft: Scheitern müsse als Lernprozess gelten. Dies sei eine kulturelle Voraussetzung für neue Gründungsdynamik.
e) Forschungsförderung reformieren
Weg von flächendeckender Anwendungsförderung hin zu Exzellenz- und Grundlagenforschung. Politische Einflussnahme auf Förderentscheidungen soll durch internationale Expertengremien ersetzt werden.
3. Ökonomische Impulse durch Investitionen – aber mit Bedacht
Die im März 2025 beschlossenen Änderungen der Schuldenbremse (500 Mrd. € Sondervermögen für Infrastruktur und Klimaschutz, höhere Verteidigungsausgaben außerhalb der Schuldenregel) schaffen fiskalische Spielräume.
Die Autoren mahnen jedoch:
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Investitionen müssen produktiv sein, nicht konsumtiv.
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Verteidigungsausgaben sollen über „Dual-use“-Technologien Innovationsspillover erzeugen.
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Infrastrukturinvestitionen sollen über wettbewerbliche Ausschreibungen erfolgen, um Verdrängungseffekte und Preissteigerungen zu vermeiden.
Ökonomisch droht sonst ein „Strohfeuer“, wenn zusätzliche Staatsnachfrage nicht durch Angebotsreformen begleitet wird.
4. Systematische Deregulierung als Wachstumshebel
Ein zentrales Kapitel fordert den Prinzipienwechsel in der Regulierung:
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Jede neue Regel bedarf einer wirtschaftlichen Begründung („Beweislastumkehr“).
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Wachstumshemmende Vorschriften – insbesondere im Arbeitsrecht, Umweltrecht, Datenschutz und Baurecht – sollen überprüft und ggf. aufgehoben werden.
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Datenschutz soll innovationsfreundlicher gestaltet werden (Opt-out statt Opt-in).
Juristisch würde dies eine Neuinterpretation des Vorsorgeprinzips nach sich ziehen, das bislang in der EU-Politik oft innovationshemmend wirkt.
5. Reform der Sozialsysteme
Ökonomisch wie verfassungsrechtlich zentral ist der Vorschlag, das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung zu koppeln und den Nachhaltigkeitsfaktor zu stärken. Nur so könne die finanzielle Tragfähigkeit gewahrt und eine intergenerationelle Schieflage vermieden werden (§ 20 SGB VI).
Gleichzeitig wird eine Entlastung der Lohnnebenkosten gefordert – über eine Begrenzung der beitragsfinanzierten Sozialleistungen, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit nicht weiter zu unterminieren.
6. Juristisch-ökonomische Bewertung
Die „Wachstumsagenda“ markiert einen klaren Bruch mit dem derzeitigen steuer- und industriepolitischen Kurs der Bundesregierung.
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Juristisch verlangt sie eine Rückbesinnung auf den freiheitlich-wettbewerblichen Ordnungsrahmen des Art. 12, 14 und 2 GG in Verbindung mit der Eigentumsgarantie und Berufsfreiheit – ein Ende politischer Lenkung zugunsten marktkonformer Regeln.
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Ökonomisch steht sie für eine angebotspolitische Renaissance: weniger Staat, mehr marktwirksame Innovation.
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Fiskalpolitisch wird die Ausweitung der Verschuldung zwar pragmatisch akzeptiert, aber an die Bedingung geknüpft, dass nur investive Ausgaben mit realem Produktivitätsbeitrag zulässig sind.
7. Fazit – ein Paradigmenwechsel
Deutschland steht vor der Wahl: weitere fiskalische Expansion mit wachsender Abhängigkeit von Subventionen, oder eine ordnungspolitische Neubegründung mit Wettbewerb, Innovationsfreiheit und resilienten Strukturen.
Das Gutachten liefert hierfür ein kohärentes, marktwirtschaftlich fundiertes Konzept – ökonomisch solide, juristisch tragfähig und politisch anspruchsvoll.