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Verfassungswidrigkeit des Rundfunkbeitrags bei gröblicher Verfehlung der Programmvielfalt

Arbeitsrecht – Erbrecht - Kommunalrecht

Verfassungswidrigkeit des Rundfunkbeitrags bei gröblicher Verfehlung der Programmvielfalt

Deutsches Recht

Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG 6 C 5.24) vom 15. Oktober 2025, Pressemitteilung Nr. 80/2025:

I. Sachverhalt

Die Klägerin verweigerte die Zahlung des Rundfunkbeitrags für den Zeitraum Oktober 2021 bis März 2022. Sie machte geltend, der öffentlich-rechtliche Rundfunk (ÖRR) biete kein vielfältiges und ausgewogenes Programm mehr, diene als „Erfüllungsgehilfe der herrschenden Meinung“ und verfehle damit seinen Funktionsauftrag nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG. Dadurch entfalle der individuelle Vorteil, der die Beitragspflicht rechtfertigen solle.

Die Vorinstanzen (VG München, VGH München) wiesen die Klage ab mit der Begründung, der Vorteil bestehe allein in der abstrakten Nutzungsmöglichkeit – unabhängig von der tatsächlichen Programmausgestaltung.


II. Tenor und Kernaussage des Urteils

Das Bundesverwaltungsgericht hat das Berufungsurteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung zurückverwiesen.

Leitsatz:

Die Erhebung des Rundfunkbeitrags ist erst dann verfassungswidrig, wenn das Gesamtprogrammangebot der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten über einen längeren Zeitraum gröblich die Anforderungen an gegenständliche und meinungsmäßige Vielfalt und Ausgewogenheit verfehlt.


III. Tragende Erwägungen

1. Bindung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

Das BVerwG betont die Bindungswirkung der Entscheidung des BVerfG vom 18. Juli 2018 (1 BvR 1675/16 u.a.):

  • Die Beitragspflicht ist nur verfassungsrechtlich gerechtfertigt, weil der ÖRR ein Programmangebot bereitstellt, das dem Funktionsauftrag entspricht.

  • Der Funktionsauftrag dient der Sicherung der Meinungsvielfalt und dem Ausgleich zur privatwirtschaftlichen Rundfunklandschaft.

Damit besteht eine materielle Wechselbeziehung zwischen der Beitragspflicht und der Programmerfüllung, auch wenn sie einfachgesetzlich (§ 2 Abs. 1 RBStV) nicht ausdrücklich normiert ist.


2. Keine unmittelbare Einwendung gegen die Beitragspflicht

Ein Beitragszahler kann nicht unmittelbar geltend machen, der Rundfunk erfülle seinen Auftrag nicht – der RBStV sehe keine solche Einwendungsmöglichkeit vor.
Das betrifft sowohl:

  • den Rundfunkbeitragsstaatsvertrag (§ 2 Abs. 1 RBStV) als auch

  • den Medienstaatsvertrag (MStV).

Der Gesetzgeber habe die Beitragspflicht praktikabilitätsorientiert ausgestaltet, um Erhebungs- und Vollzugsdefizite zu vermeiden.


3. Kein subjektiv-öffentliches Recht auf „richtigen Rundfunk“

Aus Art. 5 Abs. 1 GG ergibt sich kein subjektives Recht des Einzelnen, ein ausgewogenes Programm einzufordern.
Der Funktionsauftrag ist institutionell, nicht individuell** garantiert.


4. Grenze der Verfassungsmäßigkeit: gröbliche Verfehlung des Funktionsauftrags

Die Verfassungsmäßigkeit der Beitragspflicht entfällt nur, wenn:

  • das Gesamtprogramm (nicht einzelne Sendungen),

  • über einen längeren Zeitraum (mindestens zwei Jahre),

  • evidente und regelmäßige Defizite hinsichtlich Vielfalt und Ausgewogenheit aufweist.

Diese Grenze folgt aus dem Äquivalenzprinzip:
Es darf kein grobes Missverhältnis zwischen Abgabenlast und dem gebotenen Leistungsniveau bestehen.


5. Hohe Eingriffsschwelle und Beweislast

  • Die Schwelle ist hoch, weil der Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum hat.

  • Programmvielfalt ist ein Zielwert, der sich nur annäherungsweise erreichen lässt.

  • Die Programmfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG) schützt den ÖRR gerade davor, dass Gerichte konkrete redaktionelle Vorgaben machen.

Ein Gericht darf daher nur bei nachhaltig belegten strukturellen Defiziten (z. B. durch wissenschaftliche Gutachten) eine Verletzung annehmen.


6. Konsequenzen für das Verfahren

Der Bayerische VGH hatte die Frage, ob eine solche grobe Verfehlung vorliegt, nicht geprüft.
Das BVerwG verweist zurück, um eine tatrichterliche Beweisaufnahme durchzuführen.
Dazu gehört ggf. eine konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 GG, wenn sich Defizite bestätigen.

Gleichwohl äußert das BVerwG deutliche Skepsis, dass die Klägerin die erforderliche Evidenz vorlegen kann.


IV. Juristische Bewertung

1. Systematische Bedeutung

Das Urteil ist ein grundsätzlicher Wendepunkt:
Erstmals erkennt das BVerwG eine materielle Bindung zwischen Beitragspflicht und Programmqualität verfassungsrechtlich an – auch wenn diese einfachgesetzlich fehlt.

Damit wird das Äquivalenzprinzip (Leistung ↔ Gegenleistung) im Bereich des Beitragsrechts für den Rundfunk verfassungsrechtlich aufgeladen.


2. Grenze: „gröbliche Verfehlung“

Das Gericht definiert einen Mindeststandard für die Rundfunkanstalten:

  • Vielfalt und Ausgewogenheit dürfen nicht über längere Zeit erkennbar verletzt werden.

  • Eine punktuelle Schieflage, thematische Schwerpunktsetzung oder „politische Tendenz“ genügt nicht.

  • Nur eine nachhaltige, strukturelle Einseitigkeit könnte den Beitrag verfassungsrechtlich entwerten.

Diese Schwelle ist bewusst hoch, um die Programmfreiheit zu schützen und die Funktionsfähigkeit des Beitragsmodells nicht zu gefährden.


3. Folge für die Praxis

Ein Beitragspflichtiger kann künftig geltend machen, dass

  • der ÖRR seinen Funktionsauftrag grob und dauerhaft verletzt, und

  • deshalb die Verfassungsmäßigkeit des § 2 RBStV fraglich ist.

Dies setzt allerdings voraus:

  • wissenschaftliche Belege (z. B. Inhaltsanalysen, Langzeitstudien),

  • einen zeitlichen Nachweiszeitraum von mind. zwei Jahren, und

  • den Nachweis, dass die Verfehlung strukturell, nicht zufällig oder redaktionell bedingt ist.


4. Einordnung im Lichte des BVerfG 2018

Das BVerfG hatte 2018 die Beitragspflicht auf Grundlage eines damals vielfältigen Programmangebots gebilligt.
Das BVerwG öffnet nun ausdrücklich die Möglichkeit, dass sich die tatsächliche Situation geändert haben könnte – und dies verfassungsrechtlich relevant sein kann.
Damit ist erstmals eine gerichtlich überprüfbare qualitative Grenze des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im Beitragsrecht gezogen.


Das Urteil ist ein strategischer Einschnitt:

  • Es bestätigt die Beitragspflicht formal,

  • öffnet aber die materielle Kontrolle über das Programmangebot,

  • und gibt Klägern erstmals ein juristisches Einfallstor, um über die inhaltliche Qualität des ÖRR eine verfassungsgerichtliche Prüfung zu erzwingen.

Es markiert damit einen Übergang vom rein finanzverfassungsrechtlichen Ansatz (Beitrag als Gegenleistung für Nutzungsmöglichkeit) zu einer qualitativen Legitimationsprüfung des Rundfunksystems.


Man muß die Urteilsbegründung abwarten, aber der Funktionsauftrag des ÖRR beschränkt sich nicht nur auf die Programmvielfalt – es ist weit mehr.

Das Programm ist lediglich die sichtbare Ausprägung eines umfassenderen verfassungsrechtlichen Funktionsauftrags, der drei Dimensionen umfasst: Programm, Struktur und Unabhängigkeit.


Funktionsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks – aus dem ZDF-Urteil vom 25. März 2014 (1 BvF 1/11) und dem Rundfunkbeitragsurteil vom 18. Juli 2018 (1 BvR 1675/16 u.a.):


I. Grundverständnis des Funktionsauftrags

Beide Urteile bestätigen übereinstimmend, dass der Funktionsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ein verfassungsrechtlicher Auftrag aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG ist, der nicht nur das Programm, sondern auch Organisation, Struktur und Unabhängigkeit der Anstalten umfasst.

Der Funktionsauftrag besteht danach in der Sicherung von Meinungsvielfalt, Ausgewogenheit, Unabhängigkeit und Staatsferne im gesamten Rundfunksystem.


II. Inhaltliche Dimension (Programmauftrag)

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat zu inhaltlicher Vielfalt beizutragen, wie sie allein über den freien Markt nicht gewährleistet werden kann.

Er muss:

  • eigene Impulse und Perspektiven einbringen,

  • unabhängig von Einschaltquoten und Werbeinteressen senden,

  • ein Programm bieten, das den Anforderungen gegenständlicher und meinungsmäßiger Vielfalt entspricht,

  • die volle Breite des klassischen Rundfunkauftrags abdecken (Information, Bildung, Unterhaltung, Kultur).

Damit ist der ÖRR nicht auf eine „Mindestversorgung“ oder das Füllen von Nischen beschränkt, sondern muss ein komplettes Gegengewicht zum marktorientierten Rundfunk bilden.


III. Strukturelle Dimension (Binnenpluralismus und Gremienordnung)

Der Funktionsauftrag ist institutionell abzusichern:

Von diesem Auftrag ausgehend ist seine Organisation als öffentlich-rechtliche Anstalt mit einer binnenpluralistischen Struktur verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Anforderungen:

  • Plural zusammengesetzte Aufsichtsgremien (Rundfunkrat, Verwaltungsrat),

  • Einbeziehung vielfältiger gesellschaftlicher Gruppen, nicht nur großer Verbände,

  • Begrenzung des staatlichen Einflusses: höchstens ein Drittel staatliche oder staatsnahe Mitglieder,

  • Sicherung effektiver Mitwirkungsrechte für staatsferne Vertreter.

Diese Binnenstruktur dient der organisatorischen Sicherung der Programmvielfalt.


IV. Unabhängigkeitsdimension (Staatsferne)

Das Gebot der Staatsferne ist integraler Bestandteil des Funktionsauftrags:

Das Gebot der Staatsferne zielt darauf, die Darstellung, Verarbeitung und Interpretation der Wirklichkeit in ihren vielfältigen Bewertungen ins Werk zu setzen.

Wesentliche Grundsätze:

  • Der Staat trägt eine Strukturverantwortung, aber keine inhaltliche Steuerungsverantwortung.

  • Politische Instrumentalisierung des Rundfunks ist zu verhindern.

  • Die Gestaltung des Programms darf nicht Teil staatlicher Aufgabenwahrnehmung sein.

  • Ziel ist ein Rundfunk, der „dem Prinzip gesellschaftlicher Freiheit und Vielfalt verpflichtet ist, nicht aber von Repräsentanten des Staatsapparats geformt“ wird.

Damit wird die Unabhängigkeit als konstitutiver Bestandteil des Funktionsauftrags definiert – nicht bloß als formales Organisationsprinzip.


V. Finanzierungsdimension (BVerfG 2018 – 1 BvR 1675/16 u.a.)

Im Rundfunkbeitragsurteil heißt es:

Der Rundfunkbeitrag dient der funktionsgerechten Finanzausstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.

Die Beitragspflicht wird materiell nur dadurch gerechtfertigt, dass:

  1. die Finanzierung die Erfüllung des Funktionsauftrags ermöglicht, und

  2. der Einzelne die Möglichkeit hat, ein den Funktionsauftrag erfüllendes Programm zu empfangen.

Zugleich wird die Rolle des ÖRR in der digitalen Medienwelt betont:

Angesichts wachsender Unsicherheiten hinsichtlich Glaubwürdigkeit und Fakten stellt der beitragsfinanzierte öffentlich-rechtliche Rundfunk ein vielfaltssicherndes und Orientierung bietendes Gegengewicht dar.


Der Funktionsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks umfasst somit:

  1. Inhaltlich – die Sicherung von Meinungsvielfalt, Ausgewogenheit und kultureller Breite.

  2. Institutionell – die staatsferne, pluralistische Organisation.

  3. Finanziell – die durch Beiträge gesicherte unabhängige Funktionsfähigkeit.

  4. Verfassungsrechtlich – die Garantie, dass weder staatliche noch wirtschaftliche Macht den Rundfunk instrumentalisieren können.

Das BVerfG definiert den ÖRR damit als institutionalisierte Gegenmacht zu politischer und ökonomischer Einflussnahme.
Ein Verlust dieser Unabhängigkeit würde zugleich eine Verfehlung des Funktionsauftrags bedeuten – und in der Logik des BVerwG-Urteils vom 15. Oktober 2025 (6 C 5.24) eine verfassungsrechtliche Schwelle für die Beitragspflicht erreichen.


Dazu auch: Systemische Probleme des öffentlich-rechtlichen Rundfunks I – Medienfreiheit

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