Polen kündigt Aussetzung des Asylrechts an

Die polnische Regierung will per Dekret das Recht auf Asyl aussetzen.
Die polnische Regierung hat beschlossen, das Asylrecht vorübergehend auszusetzen. Ministerpräsident Donald Tusk kündigte an, dass ein entsprechendes Dekret verabschiedet wird, nachdem Präsident Andrzej Duda ein Gesetz zur Beschränkung von Asylanträgen unterzeichnet hat. Dieses Gesetz erlaubt es, in Notfällen an der Grenze für 60 Tage nur Ausländern Asylanträge zu gewähren, die legal nach Polen eingereist sind. Hintergrund dieser Entscheidung ist die irreguläre Migration aus Belarus, unterstützt durch die belarussischen Behörden. Die EU wirft Russland und Belarus vor, Migranten gezielt an die Grenzen auszusenden, um Europa zu destabilisieren.
Hintergründe der Entscheidung
Die polnische Regierung sieht sich mit einer zunehmenden Zahl von Migranten konfrontiert, die über Belarus nach Polen gelangen. Dieser Anstieg wird als Teil einer hybriden Kriegsführung betrachtet, bei der Migranten als politisches Druckmittel eingesetzt werden. Polen wirft den belarussischen und russischen Behörden vor, diese Migration gezielt zu fördern, um die Europäische Union zu destabilisieren. DIE WELT
Europarechtliche Einordnung
Die Europäische Union verfolgt das Ziel, eine gemeinsame Asylpolitik zu gestalten, die im Einklang mit der Genfer Flüchtlingskonvention steht und den Grundsatz der Nichtzurückweisung gewährleistet. Allerdings hat die EU-Kommission im Dezember eine vorübergehende Einschränkung des Asylrechts genehmigt, wenn Migranten als politische Waffen eingesetzt werden. Dennoch sehen Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International diesen Schritt als Verstoß gegen internationale Verpflichtungen und kritisieren ihn als rechtswidrig.
Flüchtlingszahlen und Herkunft
Die genaue Anzahl der Flüchtlinge, die über Belarus nach Polen gelangen, variiert und unterliegt Schwankungen. Berichte deuten darauf hin, dass die Zahl der Migranten, die versuchen, die polnische Grenze zu überqueren, in letzter Zeit zugenommen hat. Diese Migranten stammen häufig aus Ländern des Nahen Ostens und Afrikas und nutzen Belarus als Transitland, um in die Europäische Union zu gelangen. Die polnischen Behörden berichten täglich von Versuchen, die Grenze zu überqueren, was die angespannte Situation an der Grenze verdeutlicht.
🔹Grundlagen des EU-Asylrechts
Die zentrale Regelung ist:
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Art. 18 der EU-Grundrechtecharta: „Das Recht auf Asyl wird nach Maßgabe der Genfer Flüchtlingskonvention und des EU-Rechts gewährleistet.“
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Art. 33 GFK (Nicht-Zurückweisung, „Non-Refoulement“): Kein Flüchtling darf in ein Land zurückgeschickt werden, wo ihm Verfolgung droht.
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Aufnahmerichtlinie (2013/33/EU) und Asylverfahrensrichtlinie (2013/32/EU): Regeln das Verfahren, Mindeststandards und Rechte von Asylbewerbern.
🔹 Ausnahmen und Notfallregelungen
a) Art. 78 Abs. 3 AEUV:
„Im Falle eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen […] kann der Rat […] vorläufige Maßnahmen zugunsten des betroffenen Mitgliedstaats beschließen.“
Das bedeutet: Nur auf Vorschlag der Kommission und mit Zustimmung des Rates können EU-Staaten Abweichungen in außergewöhnlichen Situationen vornehmen – nicht einseitig durch nationale Gesetze.
b) Grenzschutz und Sicherheit (Art. 72 AEUV):
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Mitgliedstaaten dürfen zum Schutz der öffentlichen Ordnung Maßnahmen treffen. Das erlaubt aber keine vollständige Außerkraftsetzung des Asylrechts.
🔹 Präzedenzfälle & EU-Kommissionslinie
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Im Kontext der „hybriden Angriffe“ aus Belarus (ab 2021) hat die EU-Kommission Polen, Litauen und Lettland vorübergehende Sondermaßnahmen eingeräumt (z. B. verlängerte Registrierungsfristen, beschleunigte Verfahren), aber das Asylrecht als solches nicht ausgesetzt.
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Die Kommission betont: „Alle Maßnahmen müssen mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der Grundrechtecharta vereinbar sein.“
🔹 Völkerrechtliche Bindung Polens
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Polen bleibt auch außerhalb des EU-Rahmens an die Genfer Flüchtlingskonvention (1951) gebunden.
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Ein generelles Zurückweisen ohne Einzelfallprüfung wäre ein klarer Verstoß gegen Art. 33 GFK (Non-Refoulement-Grundsatz).
Diese völker- und unionsrechtliche Einordnung ändert sich partiell, wenn Flüchtlinge gezielt als „Instrumentalisierung“ im Rahmen eines hybriden Angriffs eingesetzt werden – etwa durch Belarus. Aber: Auch dann gilt der Kern des Asylrechts, insbesondere der Non-Refoulement-Grundsatz, weiterhin.
🔹 „Instrumentalisierung“ von Migration
Die EU und Polen betrachten die Lage an der Grenze zu Belarus als hybride Bedrohung, da der belarussische Staat:
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Menschen aus Drittstaaten (z. B. Irak, Syrien, Kongo) gezielt nach Belarus einfliegen ließ,
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ihnen Visen oder „Touristenreisen“ ausstellte,
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sie dann in Richtung polnische Grenze lenkte,
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mit dem Ziel, politischen Druck auf die EU auszuüben.
Solche Vorgänge können als „staatlich gelenkte Migrationswaffe“ eingestuft werden.
🔹 EU-Rechtslage in Fällen hybrider Angriffe
Im Dezember 2021 verabschiedete die EU-Kommission Sonderregelungen für Polen, Lettland und Litauen. Diese erlaubten u. a.:
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verlängerte Fristen zur Registrierung von Asylanträgen (bis zu 4 Wochen),
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beschleunigte Verfahren an der Grenze,
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temporäre Ausweitung von Haftmöglichkeiten.
❗ Aber: Auch in dieser besonderen Lage betonte die EU-Kommission:
„Der Zugang zum Asylverfahren und das Verbot der Zurückweisung müssen gewahrt bleiben.“
Das bedeutet:
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Auch wenn Flüchtlinge instrumentalisiert wurden, darf ein Staat sie nicht ohne Einzelfallprüfung pauschal zurückweisen.
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Die Umstände der Einreise (z. B. über Belarus) schließen das Asylrecht nicht aus, können aber das Verfahren und den Ausgang beeinflussen.
🔹 Völkerrechtliche Bewertung
Nach Art. 31 Genfer Flüchtlingskonvention verlieren Flüchtlinge nicht automatisch ihren Schutzstatus, nur weil sie illegal eingereist sind oder in ein Drittland kamen.
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Auch in Fällen bewusster Schleusung durch Drittländer gilt: Eine Person hat ein Recht auf individuelle Prüfung ihres Schutzersuchens.
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Nur bei massivem Missbrauch durch Staaten kann über staatliche Gegenmaßnahmen diskutiert werden – aber nicht auf Kosten der Flüchtlinge.
Ist die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 noch zeitgemäß?
Ein Blick auf Geschichte, Gegenwart und geopolitische Herausforderungen
🔹 Die Geburtsstunde der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK)
Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) wurde am 28. Juli 1951 unter dem Eindruck der Flüchtlingskatastrophen des Zweiten Weltkriegs von der Staatengemeinschaft beschlossen. Die Konvention trat 1954 in Kraft und schuf erstmals einen verbindlichen völkerrechtlichen Rahmen für den Umgang mit Flüchtlingen.
Damals war das Bild des Flüchtlings klar umrissen:
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Menschen, die aufgrund von Verfolgung wegen Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen politischer Überzeugung ihre Heimat verlassen mussten.
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Die Flüchtlingsbewegungen waren regional begrenzt, insbesondere in Europa.
Ziel der GFK war es, die Menschen zu schützen, die von totalitären Regimen verfolgt worden waren – mit Blick auf das nationalsozialistische Deutschland und den sowjetisch kontrollierten Osten.
🔹 Die Weltlage heute: Migration im Zeichen von Globalisierung und Konflikt
Seit den 1990er-Jahren hat sich das Flüchtlingsgeschehen fundamental gewandelt. Die globalisierte Welt ist geprägt durch:
1. Massenmigration
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Bevölkerungswachstum, Klimawandel, Armut und fragile Staaten erzeugen einen globalen Migrationsdruck.
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Die Zahl der Vertriebenen stieg laut UNHCR auf über 114 Millionen Menschen (Stand 2023) – ein historischer Höchststand.
2. Wirtschaftsflüchtlinge
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Viele Migranten fliehen nicht vor individueller Verfolgung, sondern vor wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit, Korruption oder zerfallenden Staaten.
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Diese Gründe fallen nicht unter die Definition der GFK, führen aber dennoch zu Wanderungsbewegungen, die Zielstaaten vor enorme Herausforderungen stellen.
3. Flüchtlinge als geopolitische Waffe
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Autokratische Regime (z. B. Belarus, Russland, Türkei, Libyen) nutzen Migrationsbewegungen strategisch, um politische oder wirtschaftliche Zugeständnisse zu erzwingen.
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Flüchtlinge werden als Druckmittel oder Mittel der Destabilisierung eingesetzt – ein Phänomen, das der GFK gänzlich fremd war.
🔹 Juristische Reichweite und Grenzen der GFK
Die GFK definiert den Begriff des Flüchtlings eng. Wer unter sie fällt, hat ein Recht auf Schutz – insbesondere das Verbot der Zurückweisung (Art. 33 GFK: Non-Refoulement). Sie wurde 1967 durch ein Protokoll globalisiert, das die geografische und zeitliche Begrenzung aufhob.
Aber:
Die GFK unterscheidet nicht zwischen dem schutzbedürftigen Verfolgten und dem geopolitisch instrumentalisierbaren Migranten. Auch über Lastenteilung, Rückführung oder Integrationsgrenzen äußert sie sich nicht.
Artikel 33 der GFK:
Verbot der Ausweisung und Zurückweisung
1. Keiner der vertragschließenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde.
2. Auf die Vergünstigung dieser Vorschrift kann sich jedoch ein Flüchtling nicht berufen, der aus schwer wiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit des Landes anzusehen ist, in dem er sich befindet, oder der eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Staates bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens rechtskräftig verurteilt wurde.
🔹 Ist die GFK noch zeitgemäß?
Was für die GFK spricht:
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Sie bleibt das zentrale menschenrechtliche Schutzinstrument für Verfolgte weltweit.
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Sie ist Ausdruck des humanitären Grundkonsenses der internationalen Ordnung.
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In autoritären Rückzugszonen (Afghanistan, Iran, Eritrea) wird ihr Schutzauftrag aktueller denn je.
Was gegen die GFK in ihrer aktuellen Form spricht:
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Sie ist nicht auf hybride Bedrohungen oder staatlich induzierte Migrationsströme vorbereitet.
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Sie bietet keine Differenzierung zwischen Schutzsuchenden und irregulären Migranten, was Aufnahmestaaten systemisch überfordert.
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Sie führt zu einer Umgehung der Migrationssteuerung durch das Asylsystem: Wer einmal im Land ist und sich auf die GFK beruft, genießt starke Rechte – selbst bei missbräuchlicher Einreise.
🔹 Reformbedarf: Ein neuer Konsens für eine neue Zeit?
Eine bloße Abschaffung der GFK wäre völkerrechtlich und politisch unverantwortlich. Aber sie bedarf einer ergänzenden internationalen Regelung, die:
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klar zwischen Flüchtling, Migrant und Missbrauchsfall unterscheidet,
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Asylrechte an Bedingungen koppelt (z. B. kein Asyl bei Einreise aus sicherem Drittstaat),
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und die Verteilung der Verantwortung (z. B. innerhalb der EU) neu regelt.
Denkbar wären:
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Eine Neufassung oder Ergänzungsprotokoll zur GFK,
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regionale Abkommen, etwa auf EU-Ebene, mit klaren Verfahrensnormen,
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sowie Sanktionen gegen Staaten, die Migration als politisches Mittel missbrauchen.