Corona-Notkredit in SH: 20.000.000 Euro für die Stärkung des Immunsystems?
Kieler Nachrichten vom 23.10.2025:
Corona-Notkredit: 20 Millionen Euro für Radwege, E-Bikes und Abstellbügel
Verkehrsministerium begründet umstrittene Vergabe der Haushaltsmittel mit „Stärkung des Immunsystems“
Die aktuelle Berichterstattung der Kieler Nachrichten unter dem Titel „Corona-Notkredit 20 Millionen € für Radwege eBikes und Abstellbügel“ verweist auf eine konkrete Verwendung von Mitteln aus dem sogenannten Corona-Notkredit des Landes Schleswig‑Holstein. Zugleich ließ die Landesregierung auf eine kleine Anfrage der FDP Landtagsfraktion Schleswig‑Holstein die Mittelverwendung detailliert aufschlüsseln – siehe oben. Die Debatte ist damit nicht nur politisch, sondern auch haushalts- und verfassungsrechtlich bedeutsam.
Hintergrund
Im September 2020 verständigten sich die Landesregierung und die Fraktionen von CDU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP (sowie SSW) auf einen vierten Nachtragshaushalt zur Bewältigung der Auswirkungen der Corona-Krise. In diesem wurden für Infrastrukturmaßnahmen unter anderem 20 Millionen Euro für kommunale Radwege ausgewiesen. (schleswig-holstein.de) Damit wurden Radwege ausdrücklich als Bestandteil des Maßnahmenpakets genannt, das mit Mitteln aus dem Notkredit finanziert werden soll.
Der Notkredit-Beschluss beruhte auf der Auffassung, das Land befinde sich in einer Haushaltsnotlage infolge der Pandemie (Steuermindereinnahmen, erhöhte Ausgaben). Zugleich wurde betont, dass die Mittel zukunftsgerichtet eingesetzt werden sollten – über bloße Akutmaßnahmen hinaus („Struktur- und Zukunftsinvestitionen“). (schleswig-holstein.de)
Inhalte der kleinen Anfrage der FDP
Die FDP-Landtagsfraktion stellte eine kleine Anfrage an das Verkehrsministerium bzw. die Landesregierung, in der sie unter anderem wissen wollte, welche konkreten Projekte mit welchem Betrag aus dem Notkredit finanziert worden seien. Laut Artikel der Kieler Nachrichten wurden dadurch Radverkehrsinvestitionen konkret benannt: Radwege, eBikes, Abstellbügel (Fahrradständer) etc. (KN – Kieler Nachrichten)
Die Landesregierung begründet die Verwendung mit dem Argument, dass moderates Radfahren das Immunsystem stärke und somit pandemiebezogene Zielsetzungen unterstütze.
Aus der Landtagsdrucksache 20/3663.
Wie haben die jeweiligen Maßnahmen zur Erreichung des Ziels beigetragen, den Radverkehr und damit das Immunsystem zu stärken?
Antwort:
Die Maßnahmen haben die Attraktivität des Radverkehrs gesteigert, es sind u.a. Radwege saniert, mit Radwegweisungen versehen, die Verkehrssicherheit verbessert und Abstellmöglichkeiten geschaffen worden. Damit wurden insbesondere die in der Radstrategie „Ab aufs Rad im echten Norden“ in den Handlungsfeldern 2 (Infrastruktur), 3 (Radtourismus) und 5 (Verkehrssicherheit) empfohlenen Maßnahmen umgesetzt, um den Radverkehr zu stärken und mehr Menschen zum Radfahren zu motivieren. Diverse Studien belegen, dass moderates Radfahren das Immunsystem stärkt, u.a. kräftigen Sportarten mit zyklischen Bewegungsformen die Atemmuskulatur, sorgen für eine bessere Ventilation der Lunge und schützen vor Infekten.
Kritische Bewertung
Ökonomisch-haushaltsrechtlich ist zu prüfen:
-
Ob die Mittelverwendung den Bezug zur Krise (Pandemie und deren Folgen) aufweist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht muss ein sachlicher Zusammenhang zwischen der Notlage und den mit dem Kredit finanzierten Maßnahmen bestehen. (Landtag Schleswig-Holstein)
-
Ob die Maßnahmen geeignet, erforderlich und angemessen sind, um die Krise bzw. ihre mittelbaren Folgen zu bewältigen. Radwege könnten – so die Argumentation – dazu beitragen, das Verkehrssystem zu entlasten, Infektionsrisiken im ÖPNV zu mindern, oder langfristig Mobilität und Gesundheit zu stärken.
-
Ob solche Struktur- bzw. Zukunftsinvestitionen durch den Notkredit gerechtfertigt sind oder besser aus regulären Haushaltsmitteln finanziert werden sollten. Die FDP übt hier deutliche Kritik: Sie sieht die Mittelverwendung als politisch motiviert und nicht mehr unmittelbar pandemiebedingt. (KN – Kieler Nachrichten)
-
Ob die Tilgung und Rückführung der Kredite sowie die Haushaltsplanung mittelfristig sichergestellt sind – ein wichtiges haushaltsrechtliches Element.
Politisch ergibt sich ein Spannungsverhältnis: Einerseits besteht eine plausible Argumentation für Investitionen in Verkehr und Gesundheit. Andererseits wirft die Opposition vor, dass solche Ausgaben eher regulären Investitionsprogrammen entsprechen und nicht als Notlagenfinanzierung getarnt werden dürften.
Bedeutung und Ausblick
Die Diskussion hat mehrere Dimensionen:
-
Für die Bürgerinnen und Bürger: Sie verlangt Transparenz darüber, wie öffentliche Mittel aus der Krise verwendet werden – nicht nur kurzfristig, sondern auch mit Blick auf Nachhaltigkeit.
-
Für Kommunen: Die Mittel für Radwege und Infrastruktur schaffen Potenzial für Modernisierung, stellen aber Anforderungen an Planung und Umsetzung.
-
Für die Haushalts- und Finanzpolitik des Landes: Wird der Notkredit richtig eingesetzt, oder drohen langfristige Belastungen und fehlende Kontrolle?
-
Für das Verhältnis von Krisensteuerung und Strukturpolitik: Wann hört Akuthilfe auf und beginnt reguläre Investitionspolitik? Diese Grenzziehung wird momentan zentral debattiert.
Im weiteren Verlauf ist damit zu rechnen, dass die FDP weitere parlamentarische Schritte prüfen wird – etwa eine Prüfung der Verfassungsmäßigkeit einiger Maßnahmen. Die Landesregierung wird darlegen müssen, wie die Mittel-Verwendung konkret dem Pandemiezweck dient und wie langfristige Rückführung sichergestellt wird
Ist die Finanzierung von Radwegen, E-Bikes und Abstellbügeln aus „Corona-Notkrediten“ mit der Landesverfassung Schleswig-Holsteins vereinbar?
Die Finanzierung von Radwegen, E-Bikes und Abstellbügeln aus „Corona-Notkrediten“ ist mit der Landesverfassung Schleswig-Holstein nur dann vereinbar, wenn ein enger sachlicher und zeitlicher Krisenbezug ex ante dargelegt, haushaltsgesetzlich zweckgebunden und mit verfassungsgemäßem Tilgungsplan unterlegt wurde. An diesem Maßstab scheiterte die Notkreditaufnahme im Haushalt 2024 insgesamt – das hat das Landesverfassungsgericht am 15. April 2025 (LVerfG 1/24) entschieden. Daraus folgt: Solche Radverkehrsmaßnahmen sind verfassungsrechtlich hoch riskant, sofern sie nicht nachweisbar pandemiebedingt und in der Haushaltsnorm präzise quantifiziert und getilgt sind. (schleswig-holstein.de)
Maßstab (Art. 61 Abs. 3 i.V.m. Art. 58 LV SH)
-
Ausnahme von der Schuldenbremse nur bei festgestellter Notlage; dann zulässig: Kredite zur Bewältigung dieser Notlage. Erforderlich sind u.a. konkrete Benennung der krisenkausalen Mehrausgaben/Mindereinnahmen, strikte Zweckbindung im Haushaltsgesetz und ein Tilgungsplan, der den zusätzlichen Kredit verursachungsgerecht zurückführt. (schleswig-holstein.de)
Kernaussagen des Urteils vom 15. April 2025 (LVerfG 1/24)
-
Das Gericht erkannte die genannten Krisen (u.a. Pandemie) als außergewöhnliche Notsituationen an, erklärte aber die Notkreditermächtigung 2024 für verfassungswidrig, weil die haushaltsgesetzliche Begründung u.a. keine hinreichend konkrete Zuordnung krisenbedingter Belastungen zum Jahr 2024 und keinen verfassungskonformen Tilgungsplan enthielt. Folge: Die Notkreditaufnahme war nichtig. (schleswig-holstein.de)
Laut Kleiner Anfrage – Drucksache 20/3663 – wurden rund 20 Mio. € aus dem Corona-Notkredit für Radverkehrsinfrastruktur eingesetzt (Radwege, E-Bikes, Abstellbügel). Das Ressort verteidigte dies teils mit gesundheits- und mobilitätspolitischen Argumenten; die FDP kritisiert fehlenden Krisenbezug. (KN – Kieler Nachrichten)
Prüfungspunkte:
-
Krisenbezug (Konnexität):
Zulässig nur, wenn ex ante tragfähig begründet wurde, dass gerade diese Radverkehrsausgaben unmittelbar der Pandemiebewältigung dienen (z.B. Entzerrung überfüllter ÖPNV-Verkehre in der Akutphase, Infektionsschutz). Allgemeine Ziele (Tourismus, kommunale Attraktivität, Verkehrswende) genügen nicht. Je mehr sich die Begründung auf strukturpolitische Zwecke stützt, desto ferner der Krisenbezug. Das LVerfG verlangt hier konkrete, zeitnahe Zuordnung – pauschale Verweise reichen nicht. -
Haushaltsgesetzliche Zweckbindung/Quantifizierung:
Es musste im Haushaltsgesetz/Nachtrag genau ausgewiesen sein, welcher Betrag krisenkausal für welchen Maßnahmenkatalog veranschlagt wird. Fehlt diese Präzision, fehlt die verfassungsrechtlich nötige Steuerungs- und Kontrollfähigkeit. Das hat das Urteil 2025 ausdrücklich beanstandet. (LTO) -
Tilgungsplan:
Für krisenbedingte Zusatzschulden ist ein Tilgungsplan erforderlich, der ausdrücklich normiert und plausibel ist. Ohne verfassungsgemäßen Tilgungsplan fällt die Notkreditermächtigung. (LTO)
Zwischenergebnis:
-
Radwege & Co. können nur ausnahmsweise notkreditfähig sein – etwa bei klar dokumentierter Akutfunktion für den Infektionsschutz in der Pandemiephase und haushaltsgesetzlicher Präzisierung.
-
Im Kontext 2024 hat das Gericht die Notkreditkonstruktion als Ganzes verworfen. Damit fehlt die verfassungsfeste Grundlage, um aus genau dieser Ermächtigung (2024) Radverkehrsprojekte zu finanzieren. Das spricht gegen die Verfassungskonformität entsprechender Verwendungen 2024.
Politisch-haushaltsrechtliche Einordnung
-
Der Landtag und die Regierung müssen nach dem Urteil umschulden bzw. ordnungsgemäß nachfinanzieren und einen rechtssicheren Tilgungsmechanismus etablieren; Debatten über Nachtrag 2025 laufen. Das unterstreicht, dass strukturelle Investitionen wie Radwege regulär (nicht als Notkredit) zu finanzieren sind, sofern kein eng gefasster Krisenbezug besteht. (DIE WELT)
Ergebnis
-
Verfassungsmäßig sind „Corona-Notkredit“-Finanzierungen für Radwege, E-Bikes und Abstellbügel nur bei strengem Nachweis des pandemiebedingten Bezugs, präziser Zweckbindung im Haushaltsgesetz und Tilgungsplan.
-
Für 2024: Nach LVerfG 1/24 war die Notkreditermächtigung insgesamt verfassungswidrig; auf dieser Basis getätigte oder geplante Radverkehrsausgaben tragen das Verfassungsrisiko der Rechtsgrundlagenlosigkeit. Politische Rechtfertigungen ohne konkrete Krisenkausalität genügen nicht.
