Berliner Verwaltungsgericht entscheidet zu Grenzkontrollen

Pressemitteilung vom 2.6.2025: Zurückweisungen bei Grenzkontrollen sind rechtswidrig
Urteil des VG Berlin: Dublin-Verfahren zwingend
Das Verwaltungsgericht Berlin entschied in mehreren Eilverfahren (Az. 6 L 191/25 u.a.) am 2. Juni 2025, dass Asylsuchende bei Grenzkontrollen auf deutschem Staatsgebiet nicht ohne weiteres abgewiesen werden dürfen. Im konkreten Fall hatten drei Somalier am 9. Mai am Bahnhof Frankfurt (Oder) Asyl beantragt und wurden sofort nach Polen zurückgewiesen. Die Bundespolizei hatte dies mit dem angeblichen „sicheren Drittstaat“ Polen begründet. Das Gericht hielt dem entgegen, dass Deutschland nach der Dublin-III-Verordnung in jedem Fall verpflichtet ist, das Dublin-Verfahren durchzuführen, sobald ein Asylgesuch auf deutschem Boden geäußert wird. Eine Zurückweisung wäre daher nur zulässig, wenn man zuvor das für Deutschland zuständige Verfahren geprüft hätte. Eine pauschale Ausnahmeregel nach Artikel 72 AEUV („Notlage“ der öffentlichen Ordnung) erkannte das Gericht nicht an: Es fehle an einer hinreichenden Gefahrenlage, sodass Art. 72 AEUV hier nicht zur Nichtanwendung der EU-Vorschriften berechtige.
Das Gericht stellte zudem klar, dass die Asylsuchenden keinen Anspruch darauf haben, ins Bundesgebiet weiterreisen zu dürfen, solange das Dublin-Verfahren an der Grenze angestoßen werden kann. Das Dublin-Verfahren kann nach den Beschlüssen auch ohne formale Einreise gestattet werden – die Bundespolizei muss die Antragstellenden also lediglich in den Zuständigkeitsbereich aufnehmen, um die Zuständigkeitsprüfung nach Dublin einzuleiten. Erst nach Abschluss dieses Verfahrens wäre zu klären, in welchem Staat das Asylverfahren stattfindet. Die Eilbeschlüsse des Gerichts sind unanfechtbar. Insgesamt hält das Gericht fest, dass eine Praxis der Zurückweisung „in der Hauptsache mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit als rechtswidrig“ einzustufen ist.
Rechtliche Grundlagen: EU-Recht, Aufenthaltsgesetz und GG
Rechtsgrundlage für die Durchführung von Asylverfahren ist in der EU die Dublin-III-Verordnung. Diese sieht vor, dass der Staat, auf dessen Gebiet ein Asylgesuch gestellt wird, prüft, welcher Mitgliedsstaat für das Verfahren zuständig ist. Das VG Berlin betonte, dass Deutschland dieser Pflicht unbedingt nachkommen muss, auch wenn der Ankommende vorher durch einen „sicheren Drittstaat“ (etwa Polen) gereist ist. Bundesinnenminister Dobrindt hatte sich bei seiner Weisung zum Teil auf § 18 Abs. 2 Nr. 1 des deutschen Asylgesetzes berufen, wonach Asylsuchende, die aus einem sicheren Drittstaat einreisen, grundsätzlich zurückgewiesen werden können. Das Verwaltungsgericht machte jedoch deutlich, dass eine solche nationale Regelung nicht über den EU-Rechtsprechungsrahmen hinwegsetzen darf.
Zentrale verfassungsrechtliche Maßgabe ist das Asylgrundrecht aus Art. 16a GG („Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“). Dieses Grundrecht gilt auf deutschem Staatsgebiet und gewährt zumindest den Zugang zum Asylverfahren. Zwar schränkt das Grundgesetz selbst Asylberechtigte nach § 16a Abs. 2 GG (z.B. bei sicheren Drittstaaten oder sicheren Herkunftsstaaten) ein, doch es ist unbestritten, dass sich die Gestalt des Asylrechts weitgehend durch Gesetzgebung (AsylG, AufenthaltsG) und EU-Recht ergibt. Nach Ansicht von Verfassungsrechtlern dürfte daher weder der Vorrang des Europarechts (Art. 23 GG) noch das Grundrecht auf Asyl (Art. 16a GG) zulasten populistischer Innenpolitik aufgegeben werden. Insbesondere verweist man auf das Gebot der Nicht-Rückführung (Art. 33 GFK, Art. 3 EMRK): Das Verbot, Schutzsuchende in einen Staat abzuschieben, wo ihnen Verfolgung droht, wäre verletzt, wenn man sie an der Grenze einfach abweist.
Schließlich gilt der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV): Würde Deutschland wie hier im Alleingang am Dublin-System „vorbeiregieren“, müsste es dafür die EU-Kommission und die Nachbarstaaten einbinden. Das VG Berlin kritisierte ausdrücklich, dass die Bundesregierung weder mit der EU noch mit Polen koordiniert habe.
Reaktionen von Regierung und Opposition
Innenminister Dobrindt kündigte umgehend an, auch in Zukunft an den Zurückweisungsregeln festzuhalten. Er wertete die Entscheidung als bloße „Einzelfallentscheidung“, in der lediglich eine unzureichende Begründung moniert werde. Dobrindt erklärte: „Wir sehen, dass die Rechtsgrundlage gegeben ist und werden deswegen weiter so verfahren – ganz unabhängig von dieser Einzelfallentscheidung“. Er wolle ein Hauptsacheverfahren anstrengen und eine ausführliche Begründung nachliefern. In einem Interview mit der Bild-Zeitung sprach er sogar von der „Macht des Faktischen“: Die Bundespolizei werde vor Ort die Probleme lösen, und die Bundesregierung werde ihren Kurs „weiter durchziehen“.
Der Beschluss des VG Berlin löste heftige Kritik der Oppositionsparteien aus. Die Grünen forderten Dobrindt auf, seine Anweisung „unverzüglich zurückzuziehen“, und sprachen von einer „harten Niederlage für die Bundesregierung“. Irene Mihalic (Grüne) betonte in der Rheinischen Post, die Regierung müsse sich künftig an Recht und Gesetz halten, statt Kompetenzen „für populistische Zwecke“ auszunutzen. Ähnlich äußerten sich Linke- und Menschenrechtsorganisationen, die das Urteil als wichtigen Durchbruch im Flüchtlingsrecht begrüßten. Selbst die Gewerkschaft der Polizei sah ihre Kritik bestätigt: Andreas Roßkopf (GdP) erinnerte daran, dass schon vorab darauf hingewiesen worden sei, die neuen Zurückweisungen seien „juristisch stark umstritten“.
Gesetzgeberischer Spielraum und rechtliche Schranken
Vor dem Hintergrund dieser Entscheidung ist der gesetzgeberische Spielraum für die Bundesregierung eng. Jeder nationale Alleingang auf Kosten der EU-Verpflichtungen läuft Gefahr, mit dem Europäischen und deutschen Verfassungsrecht zu kollidieren. Nach Art. 23 GG hat EU-Recht Vorrang, Artikel 16a GG bindet den Gesetzgeber daran, politisch Verfolgte nicht schutzlos abzuweisen. Sollte die Koalition beispielsweise per Gesetz eine umfassende Zurückweisung an den Grenzen regeln, stünde dieses Gesetz auf äußerst wackeligen Füßen – es müsste nämlich mit der Dublin-VO und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (§ Art. 4 Schengener Grenzkodex) vereinbar sein.
Experten mahnen daher einen gesamtheitlichen, europäischen Ansatz an. Der Verfassungsblog hebt hervor, dass weder das europäische Asylsystem noch das deutsche Grundrecht für Asyl komplett zugunsten des Primats der Politik ausgehöhlt werden dürfen. Länder wie Polen oder Ungarn haben bereits signalisiert, eine einseitige Schließung der Grenzen „zu Lasten ihrer Nachbarn“ im Alleingang nicht zu akzeptieren. Der Gerichtshof der EU hat zudem in früheren Fällen klargestellt, dass nationale Notmaßnahmen gegen EU-Gesetze (etwa im Schengen-Bereich) selbst ex ante mit den Mitgliedstaaten zu koordinieren sind.