Wenn Betreuung entmündigt: Ein Fall, der Fragen aufwirft

Immer mehr ältere Menschen geraten in die Betreuung – nicht zwingend zum persönlichen Vorteil
Stellen Sie sich vor, ein älterer Mann verliert seine Wohnung, sein gesamtes Hab und Gut wird ohne Belege verkauft oder entsorgt, sein Erbe bleibt verschwunden und er lebt über Monate hinweg ohne festen Wohnsitz – währenddessen steht er unter staatlicher Betreuung. Kein fiktives Szenario, sondern eine wahre Geschichte, die das deutsche Betreuungssystem in ein kritisches Licht rückt.
Der Fall:
Ein gebildeter Mann, ehemals selbstständig tätig, gerät nach familiären Schicksalsschlägen und finanziellen Turbulenzen in eine Betreuung. Ein ärztliches Gutachten attestiert ihm Alkoholabhängigkeit und mangelnde Selbstfürsorge, obwohl andere medizinische Diagnosen diese Einschätzung nicht bestätigen. In der Folge wird er unter umfassende Betreuung gestellt – einschließlich Einwilligungsvorbehalt über seine Vermögensangelegenheiten.
Was geschah daraufhin?
Die Betreuung, die Schutz bieten sollte, entwickelte sich zum Gegenteil:
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Seine elterliche Wohnung wurde unter Wert verkauft, die Erlöse sind bis heute nicht auffindbar.
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Persönliche Gegenstände, Erinnerungsstücke und Möbel verschwanden ohne Nachweis.
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Er erhielt nur ein minimales monatliches Taschengeld, während er keinerlei Zugriff auf seine eigenen Finanzen hatte.
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Eine Anmeldung bei Behörden und notwendige Anträge, etwa auf Behindertenausweise, wurden verschleppt oder ignoriert.
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Der Versuch, seine Situation gegenüber dem Gericht darzustellen, führte zu jahrelangen Verzögerungen.
Trotz fortwährender Beschwerden und der offensichtlichen Missstände griff weder das Betreuungsgericht noch die Aufsichtsbehörde wirksam ein. Es dauerte fast zwei Jahre, bis überhaupt über einen Betreuerwechsel nachgedacht wurde – zu spät für das verlorene Eigentum und die entwürdigende Behandlung, die der Betroffene ertragen musste.
Was zeigt dieser Fall?
Er zeigt, dass Betreuung in Deutschland zwar gut gemeint ist, in der Praxis aber strukturelle Schwächen aufweist:
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Die Prüfung der tatsächlichen Notwendigkeit einer Betreuung ist oft oberflächlich.
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Gutachten, die zu einer Betreuung führen, können lückenhaft oder einseitig sein – ohne ausreichend gegengeprüft zu werden.
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Einmal eingerichtete Betreuungen sind schwer wieder aufzuheben, selbst wenn sich die Sachlage ändert.
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Kontrollmechanismen gegenüber Betreuern sind schwach. Fehler oder gar Pflichtverletzungen ziehen selten ernsthafte Konsequenzen nach sich.
Betreuung darf kein Ersatz für soziale Hilfe sein
Viele der Probleme in diesem Fall wären durch soziale Unterstützungsangebote lösbar gewesen – nicht durch Entmündigung. Betreuung muss ultima ratio bleiben, nicht erstes Mittel.
Was müsste sich ändern?
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Sorgfältigere Begutachtungen mit echten Alternativen zur Betreuung.
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Stärkere Kontrolle der Betreuer – inklusive schnellerer Eingriffsmöglichkeiten bei Beschwerden.
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Rechtsanspruch auf unabhängige Zweitgutachten bei gravierenden Eingriffen wie Einwilligungsvorbehalten.
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Mehr Hilfsangebote ohne Betreuungszwang, etwa betreutes Wohnen, soziale Assistenz und finanzielle Beratung.
Fazit:
Die Geschichte dieses Mannes steht exemplarisch für die Notwendigkeit, das Betreuungssystem zu reformieren:
Betreuung darf nicht entmündigen – sondern muss befähigen, unterstützen und stets dem Willen und Wohl der Betroffenen dienen.
Betreuung bei Geschäftsunfähigkeit in Deutschland – Übersicht
1. Rechtlicher Rahmen
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§§ 1814 ff. BGB: Regelungen zur rechtlichen Betreuung
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FamFG (Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit): Verfahrensrechtliche Vorschriften
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Betreuungsorganisationsgesetz (BtOG): Anforderungen an Betreuungsbehörden und Berufsbetreuer
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Grundsatz:
Betreuung wird nur eingerichtet, wenn und soweit sie erforderlich ist („Erforderlichkeitsgrundsatz“, § 1814 Abs. 3 BGB).
2. Voraussetzungen
Eine rechtliche Betreuung wird eingerichtet, wenn:
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eine Person aufgrund
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psychischer Krankheit (z. B. Demenz, Alkoholmissbrauchsfolgen),
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körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung
ihre Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht mehr selbst besorgen kann (§ 1814 Abs. 1 BGB).
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und die Führung der Angelegenheiten nicht durch
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Vorsorgevollmacht oder
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andere Hilfen (z. B. Sozialdienste) sichergestellt ist.
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3. Zuständigkeiten und Ablauf
Schritt | Zuständige Stelle/Person | Maßnahme/Entscheidung |
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1. Anregung | Jedermann (Angehörige, Ärzte, Pflegeeinrichtungen) oder von Amts wegen | Mitteilung an das Betreuungsgericht |
2. Verfahrenseröffnung | Betreuungsgericht (Abteilung des Amtsgerichts am Wohnsitz) | Einleitung eines Betreuungsverfahrens (§§ 271, 278 FamFG) |
3. Sachverständigengutachten | Beauftragter Gutachter (z. B. Facharzt für Psychiatrie) | Erstellung eines Gutachtens über die Geschäftsfähigkeit und den Unterstützungsbedarf |
4. Anhörung der betroffenen Person | Richter des Betreuungsgerichts | Persönliche Anhörung und Erörterung im Beisein des Verfahrenspflegers (§ 278 Abs. 1 FamFG) |
5. Bestellung des Betreuers | Betreuungsgericht | Beschluss über die Einrichtung einer Betreuung und Bestellung eines Betreuers |
6. Umfang der Betreuung | Betreuungsgericht | Festlegung konkreter Aufgabenkreise (z. B. Vermögenssorge, Gesundheitsfürsorge, Aufenthaltsbestimmung) |
4. Auswahl des Betreuers
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Vorrangig: Gewünschte Person der Betroffenen, insbesondere Angehörige oder Vertrauenspersonen (§ 1816 Abs. 2 BGB).
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Sekundär: Vom Gericht bestimmte Dritte (ehrenamtliche Betreuer, Berufsbetreuer, Betreuungsvereine).
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Eignungskriterien: Fachliche und persönliche Eignung, keine Interessenkollisionen.
5. Entscheidungsbefugnisse
Bereich | Befugnisse des Betreuers | Gerichtliche Genehmigung erforderlich? |
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Vermögenssorge | Verwaltung des Vermögens, Abschluss von Verträgen | Ja, z. B. bei Grundstücksgeschäften (§ 1850 BGB) |
Gesundheitsfürsorge | Zustimmung zu medizinischen Behandlungen, Entscheidung über OPs | Ja, bei schwerwiegenden Eingriffen (§ 1851 BGB) |
Aufenthaltsbestimmung | Entscheidung über Wohnort, Unterbringung | Ja, bei Freiheitsentziehung (§ 1831 BGB) |
Grundsatz:
Der Betreuer ist Vertreter im Umfang der ihm übertragenen Aufgaben und muss den Wunsch und den mutmaßlichen Willen des Betreuten berücksichtigen (§ 1821 BGB).
6. Besonderheiten nach Ursache der Geschäftsunfähigkeit
Ursache | Besondere Aspekte |
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Alter | Häufig fortschreitender Verlust kognitiver Fähigkeiten; Betreuung meist umfassend auf Gesundheitsfürsorge und Vermögenssorge bezogen. |
Demenz | Progressiver Verlauf: Regelmäßige Überprüfungen erforderlich, ob Erweiterung des Aufgabenbereichs nötig wird (§ 286 FamFG). |
Alkoholmissbrauch | Häufig schwankende Geschäftsfähigkeit; Besonderer Fokus auf Schutz vor Selbstgefährdung und Vermögensverschlechterung. Teilweise auch Zwangsbehandlung möglich (mit gerichtlicher Genehmigung). |
7. Ende der Betreuung
Die Betreuung endet:
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bei Wegfall der Voraussetzungen (z. B. Besserung),
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mit dem Tod der betroffenen Person,
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durch gerichtliche Aufhebung (§ 1908d Abs. 1 BGB).
Das Gericht ist verpflichtet, die Betreuung regelmäßig zu überprüfen (spätestens alle 7 Jahre).
In Stichpunkten:
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Initiierung: Jeder kann Anregung geben – Entscheidung trifft das Betreuungsgericht.
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Zuständigkeit: Betreuungsgericht des Wohnsitzes.
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Bestellung: Nach persönlicher Anhörung und ärztlichem Gutachten.
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Betreuerwahl: Wunsch der betroffenen Person hat Vorrang, sonst Berufsbetreuer.
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Befugnisse: Umfang nach Aufgabenkreisen beschränkt, viele Maßnahmen genehmigungspflichtig.
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Ursachenabhängige Besonderheiten: Demenz und Alkoholmissbrauch erfordern spezifische Schutzmaßnahmen.
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Beendigung: Nur bei Wegfall der Erforderlichkeit oder Tod.