FRÜHJAHRS-GUTACHTEN 2025

Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung – Gesamtgutachten pdf
I. Gesamtgutachten des Sachverständigenrates: Hauptthesen
Das Frühjahrsgutachten 2025 analysiert die wirtschaftspolitischen Herausforderungen und Chancen im Kontext der jüngst beschlossenen Grundgesetzänderung. Zentrale Punkte:
1. Erweiterte fiskalische Spielräume
Durch die Änderungen an Art. 109, 115 und 143h GG wurden neue Kreditspielräume geschaffen – für Verteidigungsausgaben, ein Sondervermögen „Infrastruktur & Klimaschutz“ sowie strukturelle Neuverschuldungsmöglichkeiten für Länder.
2. Makroökonomische Wirkungen
Das Gutachten erwartet zunächst einen positiven Nachfrageimpuls (Fiskalmultiplikatoren), langfristig hängt der Nutzen stark davon ab, ob investiv oder konsumtiv verwendet wird. Ziel müsse sein, Wachstumspotenziale zu stärken (z. B. durch Infrastruktur, Bildung, Innovation).
3. Haushaltsdisziplin
Langfristige fiskalische Nachhaltigkeit wird betont. Die Einhaltung europäischer Fiskalregeln sei notwendig, auch wenn sie in naher Zukunft restriktiver wirken könnten als die nationale Schuldenbremse.
II. Die abweichende Meinung von Veronika Grimm
1. Kritik an nationalökonomischer Engführung
Grimm betont, dass die geopolitische Dimension – also die sicherheitspolitische Bedrohungslage Europas – Ausgangspunkt der Grundgesetzänderung war. Daraus folgt ihrer Ansicht nach, dass die neuen Spielräume in erster Linie zur Stärkung der europäischen Verteidigungsfähigkeit und Resilienz genutzt werden sollten.
„Diese Herausforderungen […] können nur gemeinsam von Europa, nicht alleine von Deutschland adressiert werden.“
Die Ratsmehrheit hingegen konzentriere sich in ihrer Analyse auf Deutschland und behandle Europa nur als „Nebenbedingung“.
2. Zweifel an fiskalischer Tragfähigkeit
Grimm kritisiert, dass die vom Rat vorgelegten fiskalischen Berechnungen die europäischen Vorgaben zu optimistisch interpretieren. Ihrer Meinung nach sei eine Kompatibilität der Verschuldungsausweitung mit den EU-Fiskalregeln nicht realistisch:
„Zusätzliche Verschuldung und damit einhergehende Ausgaben dürften […] noch weniger kompatibel sein.“
3. Fehlender Strukturbezug im Verwaltungskapitel
Prof. Veronika Grimm teilt die Diagnose, dass Deutschland unter zu hoher Bürokratie leidet. Doch sie hält den Ansatz der Ratsmehrheit für strukturell unzureichend:
Nicht nur Prozesse, sondern Regeln selbst prüfen
„Das Kapitel zum Bürokratieabbau widmet sich lediglich dem Bürokratieaufwand […] nicht den Regeln selbst und den damit verfolgten Zielsetzungen.“
Grimm fordert eine explizite Bewertung der materiellen Normen, nicht nur ihrer Umsetzung. Eine bloße Betrachtung der Umsetzungskosten sei ein verkürztes Verständnis von Bürokratieabbau.
Abschaffung statt nur Entlastung
Grimm pocht auf die Abschaffung oder Anpassung ganzer Regelungskomplexe, wenn diese innovations- oder wachstumshemmend sind. Zentrale Kritikpunkte sind:
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Überregulierung im Arbeitsrecht (z. B. starre Arbeitszeitgesetze)
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Nachhaltigkeitsberichtspflichten (z. B. Lieferkettengesetz)
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unverhältnismäßige Informationspflichten
„Echte Entlastung dürfte es nur mit einem Abbau von Regulierung geben.“
Innovationshemmnisse durch Vorsorgeprinzip
Grimm kritisiert die überdehnte Anwendung des Vorsorgeprinzips, die jede Unsicherheit mit neuen Verboten oder Auflagen beantworte. Sie sieht darin ein strukturelles Innovationshemmnis:
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Fehlende Abwägung zwischen Schutzinteressen und unternehmerischer Freiheit
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Keine Prüfung, ob Risiken auch anders beherrschbar wären
Stärkerer Einsatz von Künstlicher Intelligenz
Grimm fordert eine mutige Nutzung von KI zur Beschleunigung und Vereinfachung von Verwaltungsprozessen:
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automatisierte Fallbearbeitung
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Echtzeitüberwachung von Prozessen
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digitale Genehmigungsentscheidungen mit Rückfallstufen
Diese Perspektive fehle in der Analyse der Ratsmehrheit vollständig oder werde zu vorsichtig adressiert.
Zusammenfassung der Differenzen
Thema | Ratsmehrheit | Veronika Grimm |
---|---|---|
Gegenstand der Kritik | Vollzugsaufwand, nicht Inhalt | Auch materielle Regeln, nicht nur deren Umsetzung |
Zielrichtung | Prozessoptimierung | Regelinventur, Abbau von Überregulierung |
Haltung zum Vorsorgeprinzip | Keine explizite Bewertung | Vorsorgeprinzip hemmt Innovation – begrenzen |
KI und Digitalisierung | Nützlich zur Prozessvereinfachung | Strategischer Gamechanger zur Verwaltungsreform |
Einordnung regulatorischer Ziele | „Nicht Aufgabe der Politikberatung“ | Wissenschaft muss Zielkonflikte explizit benennen |
Verständnis von Bürokratieabbau | Verfahrensoptimierung | Ordnungs- und Zielüberprüfung als Grundlage |
Veronika Grimm plädiert für einen grundlegenden Ordnungswandel: Bürokratieabbau ist für sie kein rein technischer Prozess der Verfahrensvereinfachung, sondern ein politisch-ökonomisches Projekt, das auf Deregulierung, Innovationsfreiheit und marktwirtschaftliche Dynamik zielt. Ihr Ansatz steht damit in klarer Spannung zur vorsichtigen, technokratischen Linie der Ratsmehrheit. Die Debatte offenbart letztlich zwei konträre Verständnisse von Staat und Regulierung in einer modernen Marktwirtschaft.
4. Kritik an Strukturpolitik
Grimm bemängelt im Strukturwandel-Kapitel, dass zentrale Wachstumsquellen (Kapitalmärkte, Zuwanderung, Humankapital) zu wenig berücksichtigt würden. Sie plädiert für marktwirtschaftlichere Maßnahmen und weniger selektive, staatlich gelenkte Förderung.
III. Grimm und die Soziale Marktwirtschaft: Verhältnis zu Erhard und Müller-Armack
Veronika Grimm steht in einem traditionsbewussten, aber reformorientierten Verständnis der Sozialen Marktwirtschaft, das sich stärker an marktwirtschaftlicher Ordnungspolitik im Sinne Erhards orientiert als am heutigen politischen Mainstream.
Nähe zu Ludwig Erhard
Grimm betont wiederholt die Rolle von Wettbewerb, marktwirtschaftlicher Allokation und Eigenverantwortung. Diese Haltung entspricht klar der Programmatik von Ludwig Erhard, der eine „freie Marktwirtschaft mit sozialem Gewissen“ vertrat, jedoch staatliche Dirigismen ablehnte.
Grimm fordert wie Erhard:
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Stabilitätsorientierte Fiskalpolitik
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Geringe Staatsquote
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Innovations- statt Subventionspolitik
In ihrer INSM-Studie „Für eine echte Wirtschaftswende“ (2025, mit Feld und Wieland) betont Grimm:
„Staatliche Lenkung sollte nur dort eingreifen, wo Märkte versagen – nicht zur Umsetzung politischer Präferenzen.“
Grimm steht repräsentativ für eine Richtung, die die marktwirtschaftliche Komponente der Sozialen Marktwirtschaft betont und staatlichen Interventionismus – wie in der Klima- oder Industriepolitik – mit Skepsis begegnet.
Veronika Grimms abweichende Meinung ist eine grundsätzliche Kritik am wirtschaftspolitischen Kurs, der in der Schuldenlockerung einen Modernisierungspfad sieht. Grimm fordert dagegen eine europäisch eingebettete, sicherheitspolitisch motivierte Verwendung der Mittel und ruft zur Rückbesinnung auf eine klassisch-ordoliberale Linie auf – in klarer Tradition Ludwig Erhards, aber mit größerer Distanz zu sozialstaatlich-interventionistischen Varianten der Sozialen Marktwirtschaft.