Geplante Justizreform in Italien
Geplante Justizreform unter Giorgia Meloni – eine Analyse
Hintergrund der Reform
Die italienische Regierung unter Premierministerin Giorgia Meloni treibt eine umfassende Reform des Justizwesens voran, die per Verfassungsänderung und anschließendem Referendum bestätigt werden soll[1][2]. Politischer Auslöser ist ein tiefes Misstrauen der rechtsgerichteten Regierungsparteien gegenüber der Justiz: Meloni und ihre Verbündeten werfen den Richtern und Staatsanwälten vor, politisch voreingenommen zu sein und insbesondere konservativen Regierungen Steine in den Weg zu legen[3]. So bezeichnete Meloni z.B. die Anklage gegen Vizepremier Matteo Salvini wegen dessen harter Migrationspolitik als „surreal“[4], woraufhin die Vereinigung der Richter und Staatsanwälte (Associazione Nazionale Magistrati, ANM) der Regierung vorwarf, die Justiz zu delegitimieren und die Gewaltenteilung zu verletzen[5].
Historisch genießt die Magistratur – die in Italien traditionell Richter und Staatsanwälte als einheitlichen Berufsstand umfasst – seit der republikanischen Verfassung von 1948 eine weitgehende Unabhängigkeit. Diese Einheit der Magistratur wurde bewusst geschaffen, um nach den Erfahrungen des Faschismus politische Einflussnahme auf die Justiz auszuschließen. In den Jahrzehnten danach kam es jedoch immer wieder zu Spannungen zwischen Justiz und Politik. Prominentes Beispiel ist Silvio Berlusconi, der als Ministerpräsident über Jahre im Konflikt mit staatsanwaltlichen Ermittlungen wegen Korruption und anderer Delikte lag[6]. Die Forderung, die Justiz „umzubauen“, um der Politik mehr Handlungsspielraum zu verschaffen, besteht im rechten Lager seit langem – Berlusconi propagierte stets eine „giustizia giusta“ (eine „gerechte Justiz“), womit er eine Justiz ohne aus seiner Sicht politisch motivierte Verfahren meinte[6][7]. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Melonis Reformvorhaben von ihren Verbündeten als Erfüllung von Berlusconis jahrzehntelangem Wunsch gefeiert wird[7]. Gleichzeitig warnen Opposition und Richtervereinigungen, die Reform sei Teil eines „ideologischen Feldzugs“ der Rechtsregierung gegen die unabhängige Justiz[8] und diene letztlich dazu, die Gewaltenteilung zugunsten der Regierung zu verschieben („No ai pieni poteri“ – „Nein zu vollen Machtbefugnissen“ lautete der Protest der Opposition im Senat[9]).
Zielsetzung der Reform
Zentrales Ziel der Verfassungsreform ist die strikte Trennung von Richteramt und Staatsanwaltschaft[10]. Künftig sollen Richter und Staatsanwälte zwei vollkommen getrennte Laufbahnen einschlagen: Bereits im Auswahlverfahren würde zwischen gerichtlicher und staatsanwaltlicher Karriere getrennt, und ein Wechsel zwischen beiden Ämtern soll – anders als bisher – nicht mehr möglich sein[10]. Damit soll ein Richter nicht mehr denselben beruflichen Hintergrund teilen können wie Anklagevertreter, was nach Auffassung der Reformbefürworter die Neutralität des Gerichts stärkt. Bislang war ein Wechsel – wenn auch selten – zulässig (seit 2022 nur noch einmal nach zehn Dienstjahren)[11]. Diese institutionelle Nähe zwischen Gericht und Staatsanwaltschaft sieht die Regierung als Problem an: Offiziell wird argumentiert, man wolle die Rollen klarer trennen und die Unparteilichkeit der Richter*innen gegenüber Anklage und Verteidigung erhöhen[8]. Außenstehende sollen stärker das Bild zweier gleichgewichtiger Parteien im Strafprozess gewinnen, zwischen denen ein Richter als wirklich unabhängiger „Dritter“ steht.
Darüber hinaus zielt die Reform auf eine Neuordnung der Selbstverwaltung der Justiz. Geplant ist die Aufspaltung des Consiglio Superiore della Magistratura (CSM) – des Obersten Rats der Magistratur – in zwei separate Gremien: eines für die Richterschaft und eines für die Staatsanwaltschaft[10]. Diese beiden Räte der Magistratur sollen jeweils über Einstellungen, Beförderungen, Versetzungen und Laufbahnen in ihrem Bereich entscheiden[12]. Durch die Trennung erhofft man sich laut Justizministerium insbesondere, interne Machtzirkel und Lagerbildungen innerhalb der Magistratur (sogenannte “correnti”) aufzubrechen. So sollen die Mitglieder dieser Räte künftig auf neue Weise bestimmt werden: Ein Teil der Mitglieder soll per Los bestimmt werden, aus einem vom Parlament erstellten Kandidatenverzeichnis[13][14]. Konkret würden die Laienmitglieder (Universitätsprofessoren der Rechtswissenschaft und erfahrene Anwälte) vom Parlament in gemeinsamer Sitzung zunächst gewählt und in eine Liste aufgenommen, aus der dann die tatsächlichen Ratsmitglieder zufällig ausgelost werden[15]. Ebenso sollen die richterlichen Mitglieder der beiden CSM nicht mehr durch Wahlen innerhalb der Richterschaft bestimmt werden, sondern durch Losverfahren aus dem Kreis aller Richter bzw. aller Staatsanwälte ihres jeweiligen Bereichs[16]. Dieses unkonventionelle Auswahlmodell soll laut Reformbefürwortern die Einflussnahme organisierter Interessengruppen innerhalb der Justiz minimieren[17]. Insgesamt verspricht sich die Regierung von der Reform „ein effizienteres, ausgewogeneres System, das bürgernäher ist“, so Meloni selbst[18]. Auch Justizminister Carlo Nordio – ein ehemaliger Staatsanwalt, der seit Jahrzehnten für die Trennung der Karrierewege eintritt – betont, es handle sich nicht um eine „Strafaktion“ gegen die Justiz, sondern um eine legitime Modernisierung, wie sie in vielen westlichen Demokratien üblich sei[19]. Als historischen Kronzeugen führt Nordio an, der renommierte Jurist Giuliano Vassalli habe bereits bei der Reform der Strafprozessordnung 1988 die Trennung von Ermittlungs- und Richterfunktion gefordert[19]. Insgesamt soll die Reform nach Aussage der Regierung die Unparteilichkeit und Glaubwürdigkeit der Justiz stärken* und verloren gegangenes Vertrauen der Bevölkerung zurückgewinnen[7].
Geplante Umsetzung
Die Reform wird als Verfassungsänderung durchgeführt, da sie die italienische Verfassung in mehreren Artikeln modifiziert. Federführend eingebracht wurde der Gesetzentwurf von Ministerpräsidentin Meloni und Justizminister Nordio im Parlament (Kammervorlage Nr. 1917)[20]. Das Verfahren folgt Art. 138 der Verfassung, der für Verfassungsrevisionen zwei Lesungen in jeder Parlamentskammer vorschreibt[21]. Tatsächlich wurde die Reform in ungewöhnlich kurzer Zeit ohne Änderungen durch beide Kammern gebracht[22][23]. Im Oktober 2025 stimmte der Senat in vierter Lesung endgültig zu (112 Ja-Stimmen, 59 Nein)[1], nachdem bereits im September die Abgeordnetenkammer das nötige Mehr erreicht hatte[24]. Die erforderliche Zweidrittelmehrheit wurde jedoch nicht erreicht, weshalb die Reform gemäß Verfassung einem bestätigenden Volksentscheid (Referendum) unterzogen wird[2]. Die Oppositionsparteien haben dieses Referendum umgehend beantragt[25], und auch die Regierungsmehrheit hat angekündigt, die Volksabstimmung aktiv herbeizuführen, um rasch Klarheit zu schaffen[26]. Der Urnengang ist für das Frühjahr 2026 geplant (voraussichtlich März/April)[27]. Dabei handelt es sich um ein konfirmatives Referendum ohne Beteiligungsquorum – das heißt, die Verfassungsänderung tritt in Kraft, wenn die Mehrheit der Abstimmenden zustimmt, unabhängig von der Wahlbeteiligung[28].
Inhaltlich konzentriert sich die Verfassungsänderung auf den Abschnitt zur Gerichtsbarkeit. So soll Artikel 104 der Verfassung um den Satz ergänzt werden, dass „die Magistratur aus Angehörigen der richterlichen Laufbahn und der staatsanwaltlichen Laufbahn besteht“[29]. Damit wird das Leitbild der einheitlichen Magistratur ausdrücklich aufgegeben. Artikel 102 und 107 werden dahingehend geändert, dass die getrennten Karrierewege verankert werden und Ausgestaltung und Zugang (etwa getrennte Auswahlprüfungen und Ausbildungswege) dem einfachen Gesetzgeber übertragen sind[30]. Artikel 105 der Verfassung, der bisher die Zuständigkeiten des CSM regelte, wird grundlegend neu gefasst: Anstelle des einen CSM werden zwei parallel strukturierte CSM geschaffen (Consiglio Superiore della Magistratura giudicante für die Richterschaft und requirente für die Staatsanwaltschaft)[31]. Beide Räte werden – wie bisher das einheitliche Gremium – vom Staatspräsidenten als Vorsitzendem geleitet[31]. Ihre Zusammensetzung wird durch die Verfassungsreform neu bestimmt: Je ein Mitglied gehört dem Rat kraft Amtes an (für den Richter-Rat der Erste Präsident des Kassationsgerichts, für den Staatsanwalts-Rat der Generalstaatsanwalt beim Kassationsgericht)[31]. Ein Drittel der weiteren Mitglieder besteht aus externen „Laien“ (hochqualifizierte Juraprofessoren oder Anwältinnen), die durch das Parlament in gemeinsamer Sitzung zunächst gewählt und anschließend per Los in das jeweilige Gremium berufen werden[15]. Die verbleidenden zwei Drittel bilden berufsinterne Mitglieder (togati), die – getrennt nach Richternnen und Staatsanwältinnen – ebenfalls mittels Zufallsauswahl aus dem Kreis aller Amtsinhaberinnen bestimmt werden[16]. Die Amtszeit der so ermittelten Ratsmitglieder beträgt vier Jahre, eine direkte Wiederberufung ist ausgeschlossen[32]. Jeder Rat wählt aus dem Kreis der Laienmitglieder einen Vizepräsidentin, derdie den Vorsitz im Alltag führt[33]. Schließlich etabliert die Reform ein neues Organ, die Alta Corte Disciplinare (Disziplinarhof). Dieses wird künftig die Disziplinarrechtsprechung über Richter und Staatsanwälte übernehmen, welche bislang beim CSM (erstinstanzlich) und beim Kassationsgericht (in zweiter Instanz) lag[34]. Die Disziplinarhof soll aus 15 Richtern zusammengesetzt sein, darunter 6 Richterinnen und 3 Staatsanwältinnen (ausgelost aus erfahrenen Magistraten), sowie 6 externen Juristinnen – je drei vom Staatspräsidenten ernannt bzw. aus Parlamentslisten gelost[35]. Den Vorsitz dieses Disziplinargerichts führt eine der externen Mitglieder[36]. Gegen erstinstanzliche Urteile der Alta Corte ist nur intern Berufung möglich (ohne Mitwirkung der erstentscheidenden Mitglieder)[37]. Damit entzieht die Reform dem CSM sämtliche Disziplinarbefugnisse und überträgt sie an ein neu geschaffenes, teils mit externen Personen besetztes Gericht[34]. – Zeitplan: Nach einem erfolgreichen Referendum müsste binnen eines Jahres das einfachgesetzliche Ausführungsrecht* angepasst werden (Gesetze über die Gerichtsorganisation, das CSM und das Disziplinarverfahren)[38]. Bis dahin blieben die bisherigen Regelungen übergangsweise in Kraft[38]. Sollte die Reform im Referendum scheitern, würde die geltende Verfassungsordnung unverändert fortbestehen[39].
Vergleich mit dem aktuellen Zustand
Ein Vergleich macht deutlich, wie tiefgreifend diese Reform die italienische Justizstruktur verändert. Derzeit sind Richter und Staatsanwälte Teil einer einheitlichen Magistratur. Sie werden durch denselben Concours (Eignungsprüfung) ausgewählt und an der gemeinsamen Hochschule der Magistratur ausgebildet. Nach der Ernennung entscheidet sich meist, wer als Staatsanwältin und wer als Richterin tätig wird – ein späterer Wechsel war bislang aber möglich und kam vereinzelt vor[11]. Institutionell sind beide Berufsgruppen eng verzahnt: Gemäß Art. 104 Abs. 1 der Verfassung bilden sie gemeinsam einen autonomen und unabhängigen „Ordine della Magistratura“[40]. Entsprechend gab es bisher nur einen gemeinsamen Selbstverwaltungsrat (CSM). Dieses Gremium besteht aus 27 Mitgliedern: von Amts wegen der Präsident der Republik (als Vorsitzender) sowie der Erste Präsident und der Generalstaatsanwalt am Kassationsgericht, hinzu kommen 24 gewählte Mitglieder[41]. Davon werden zwei Drittel (16) von den Richtern und Staatsanwälten selbst gewählt und ein Drittel (8) vom Parlament in gemeinsamer Sitzung bestimmt[41]. Der CSM entscheidet zentral über alle Karriereangelegenheiten der italienischen Magistratur – von Beförderungen und Versetzungen bis hin zu Disziplinarmaßnahmen[42][12]. Die Disziplinarurteile des CSM konnten bislang beim Vereinigten Zivilsenat des Kassationsgerichts angefochten werden[34]. Insgesamt garantiert dieses System eine weitgehende Unabhängigkeit der Justiz von den anderen Staatsgewalten: Weder Exekutive noch Legislative können direkt in Personalentscheidungen oder Laufbahnen von Richtern und Staatsanwälten eingreifen. Allerdings wurde dieses Modell in der Vergangenheit sowohl von politischer Seite als auch von einigen Juristen kritisch beleuchtet.
Kritik am Status quo: Aus Sicht der Regierungsparteien hat die Einheit der Magistratur dazu geführt, dass sich innerhalb der Justiz eine intransparente „Kaste“ gebildet habe, die sich jeglicher externen Kontrolle entzieht. Tatsächlich agiert der CSM oft nach informellen Strömungen (correnti), also Interessengruppen innerhalb der Richterschaft, die z.B. bei internen Wahlen kandidieren und Einfluss auf Beförderungen nehmen[17]. Ein Skandal um Absprachen im CSM (sog. „Palamara-Affäre“ 2019) offenbarte interne Machtspiele und nährte den Ruf nach Reformen. Kritiker monieren auch, das Disziplinarsystem der Magistratur sei zu nachsichtig – laut Aussagen im Parlament würden „zu 95 % der Verfahren Richter freigesprochen“, was die Unabhängigkeit in Selbstgerechtigkeit verkehre (so der Vorwurf)[5]. Darüber hinaus wird argumentiert, die allzu enge Kollegialität zwischen Richtern und Staatsanwälten gefährde die objektive Unparteilichkeit im Prozess. So hat etwa die Vereinigung der Strafverteidiger (Unione delle Camere Penali) seit langem eine Trennung der Laufbahnen gefordert, um die Waffengleichheit vor Gericht zu stärken – in ihren Augen tritt ein Staatsanwalt faktisch als „gleichen Rang“ mit dem Gericht auf, solange beide demselben Kollektiv angehören. Dieses Argument stützt sich auch auf den in der Verfassung verankerten Grundsatz des „giusto processo“ (des fairen Verfahrens, Art. 111 IV It. Verf.), der die Gleichheit von Anklage und Verteidigung betont. Schließlich gibt es auch den umgekehrten Vorwurf, Teile der Justiz würden ihre Unabhängigkeit politisch „missbrauchen“, um unliebsame Politiker gezielt zu verfolgen – ein Vorwurf, den insbesondere Berlusconi und seine Anhänger über Jahre erhoben haben. Sie sprechen polemisch von einer „politisierten Justiz“ oder einem „Richterstaat“ und verweisen auf Fälle, in denen Gerichtsentscheidungen Regierungspolitik behinderten (aktuell z.B. Urteile gegen Melonis strikte Migrationspolitik)[4][43]. Zusammengefasst wird das derzeitige System also einerseits als Garant für richterliche Unabhängigkeit und Rechtsstaatlichkeit gesehen, andererseits aber als intransparent, ineffizient und potentiell politisch antagonistisch kritisiert. Diese Debatten bilden den Hintergrund, vor dem die nun beschlossene Reform die Weichen völlig neu stellen will.
Mit Umsetzung der Reform würde Italien von diesem Modell deutlich abweichen. Künftig stünden Richter und Staatsanwälte verfassungsrechtlich als getrennte Organe da[29]. Es gäbe zwei vollständig getrennte Karrierewege und keinerlei Wechselmöglichkeit mehr zwischen Bank und Anklagebehörde[10]. Anstelle eines gemeinsamen CSM träten zwei selbständige Räte, die jeweils nur für ihren Bereich zuständig sind[10]. In diesen Gremien säßen dann – im Unterschied zu früher – nicht mehr hauptsächlich gewählte Vertreter der Magistratur, sondern großteils per Los ausgewählte Mitglieder[14][16]. Die Reform verlagert also den Einfluss bei Personalentscheidungen tendenziell weg von den Berufsangehörigen hin zu externen Instanzen: Zwar verbleibt die formale Leitung bei Italiens Staatsoberhaupt (wie bisher), doch das Parlament bekäme indirekt mehr Gewicht, indem es die Kandidatenlisten für die Losverfahren festlegt[15]. Die Magistratur verlöre demgegenüber die Möglichkeit, ihr oberstes Selbstverwaltungsorgan selbst demokratisch zu bestimmen – ein Novum in der italienischen Nachkriegsordnung. Auch das Disziplinarsystem würde externalisiert: Statt „Selbstreinigung“ durch den CSM würde ein neu geschaffenes Gericht urteilen, in dem neben erfahrenen Magistraten auch vom Präsidenten ernannte oder aus einer Parlamentsliste geloste Mitglieder sitzen[44]. Kritiker befürchten hier eine Politisierung durch die Hintertür; Befürworter hingegen erwarten neutralere Disziplinarentscheidungen, da nicht mehr Kollegen über Kollegen richten. Nicht zuletzt verdoppelt die Reform den institutionellen Apparat (zwei Räte, neues Gericht) und ist damit organisatorisch aufwendig – die ANM warnt vor deutlich höheren Kosten und bürokratischem Aufwand ohne erkennbaren Mehrwert für die Bürger*innen[45].
Bewertung der Auswirkungen
Die geplante Reform hat weitreichende juristische Implikationen für das Gefüge von Recht und Politik in Italien. Verfassungsrechtlich bedeutet sie einen Paradigmenwechsel in der italienischen Gewaltenteilung. Nach der bisherigen Verfassungslogik bildet die Justiz eine von Legislative und Exekutive streng getrennte Gewalt, mit interner demokratischer Legitimation (durch Wahl der CSM-Mitglieder durch die Magistratur) und minimaler externer Einmischung. Dieses Gleichgewicht würde sich verschieben: Zwar blieben Richter und Staatsanwälte formell unabhängig in ihren Entscheidungen, doch die Rahmenbedingungen ihrer Karriere lägen stärker in politisch beeinflussten Händen. So werden künftig Listen für die höchsten Justizgremien vom Parlament erstellt[15], was der politischen Mehrheit indirekt erlaubt, genehme Kandidatinnen zu nominieren. Auch wenn die eigentliche Auswahl gelost wird, besteht die Sorge, dass durch die Vorauswahl die politische Couleur der Justizführung geprägt wird. Weiterhin wird darauf hingewiesen, dass die Aufteilung in zwei Räte einen ersten Schritt darstellen könnte, um in Zukunft die Staatsanwaltschaft der Weisungsbefugnis der Regierung zu unterstellen – wie es etwa in Deutschland oder Frankreich der Fall ist[8]. Schon jetzt ließe sich argumentieren, dass die Staatsanwaltschaft durch den getrennten Rat und die teilweise extern bestimmte Disziplinaraufsicht weniger abgeschirmt ist als zuvor. Die ANM warnt entsprechend, die Reform „verändere das von den Verfassungsvätern geschaffene Mächtegefüge und gefährde die volle Verwirklichung des Gleichheitsgrundsatzes vor dem Gesetz“[46]. Konkret befürchten die Richtervertreter, dass die Justiz in größerem Maße „der Einflussnahme äußerer Mächte ausgesetzt“* würde[47] – womit letztlich politischer Druck gemeint ist.
In Bezug auf die richterliche Unabhängigkeit fallen die Bewertungen geteilt aus. Die Regierungsmehrheit sieht die Unabhängigkeit nicht gefährdet, da auch in Zukunft keine direkte Unterordnung der Richter unter Regierung oder Parlament erfolgt. Vielmehr behaupten Befürworter, die Reform stärke sogar die funktionelle Unabhängigkeit der Gerichte, indem sie Richter von einer zu engen Kameradschaft mit der Anklage befreit. Die Justiz werde „wahrhaft unparteiisch“, wenn Richterlaufbahn und Anklägerlaufbahn klar getrennt sind[8]. Im Staatsverständnis der Meloni-Regierung soll die Justiz weiterhin kontrollierend wirken, aber „neutraler“ und weniger als politischer Akteur wahrgenommen werden[3]. Zudem verweist Justizminister Nordio darauf, dass die Trennung von Richter und Ankläger in vielen demokratischen Ländern üblich sei und Italien hier einen Reformbedarf habe[19][48]. Dem gegenüber steht die Kritik, dass Unabhängigkeit nicht allein fehlende Weisungen bedeutet, sondern auch institutionelle Absicherung gegen subtile Einflussnahmen. Wenn z.B. Karriereschritte oder prestigeträchtige Posten von Gremien vergeben werden, deren Zusammensetzung (direkt oder indirekt) von der Regierungsmehrheit abhängt, entsteht ein strukturelles Abhängigkeitsverhältnis[46][49]. Richter und Staatsanwälte könnten – bewusst oder unbewusst – geneigt sein, Konflikte mit der politischen Macht zu meiden, wenn ihre weitere Laufbahn von einem politisch geprägten Rat bewertet wird. Die Opposition warnt deshalb, Meloni wolle „freie Hand“ für ihre Politik und die Justiz „entzähmen“, um regierungskritische Ermittlungen zu verhindern[50][51]. Ein Kernanliegen der Reformgegner ist der Schutz der Grundrechte und rechtsstaatlichen Kontrollmechanismen: Sie fürchten, dass ohne eine wirklich unabhängige Staatsanwaltschaft etwa Korruptions- oder Amtsmissbrauchsverfahren gegen Regierende im Keim erstickt werden könnten. Das Prinzip der Gleichheit aller vor dem Gesetz (Art. 3 It. Verf.) sei gefährdet, wenn die politischen Eliten faktisch vor Strafverfolgung sicherer wären als normale Bürgerinnen[46]. Die ANM betont, die Reform bringe „keine schnellere oder effizientere Justiz, sondern eine Justiz, die verwundbarer für äußere Einflüsse ist“[47]. Unterstützung erhält diese Sicht auch von internationalen Beobachtern: Der UN-Sonderberichterstatter für die Unabhängigkeit von Richtern und Anwälten habe Bedenken geäußert, die die Befürchtungen der italienischen Richter teilen[52].
Hinsichtlich der Grundrechtswahrung und des fairen Verfahrens lassen sich pro und contra anführen. Befürworter argumentieren, eine strikte Trennung stärke das fair trial, da Richter keine frühere Anklägerperspektive mitbringen und somit wirklich unvoreingenommen urteilen. Dies könne insbesondere der Verteidigung zugutekommen und Verteidigungsrechte* sichern – ein Standpunkt, den auch die Vereinigung der Strafverteidiger (UCPI) vertritt, die sich für das „Ja“ im Referendum aussprechen will[53]. Gegner halten dem entgegen, ein faires Verfahren hänge vor allem von der Unabhängigkeit beider Verfahrensseiten ab: Wenn die Staatsanwaltschaft faktisch vom politischen Willen beeinflusst werden kann, sind die Rechte von Beschuldigten und die Gleichheit vor dem Gesetz gefährdet – politische Gegner könnten z.B. härter verfolgt, Regierungsnahe hingegen geschont werden.
Schließlich ist die Machtbalance zwischen Justiz und Politik als Ganzes zu betrachten. Die Reform verschiebt das institutionelle Gefüge zugunsten der Legislative/Exekutive, indem sie mittelbar mehr Einfluss auf die Justizverwaltung erhält. Zwar betont die Regierung, es gehe nicht darum, die dritte Gewalt zu unterwerfen, sondern sie effektiver und bürgernäher zu gestalten[18]. Allerdings sprechen Kritiker von einer schrittweisen „Gewaltenvereinigung“ nach illiberalem Vorbild[54][8]. Vergleiche werden etwa zu Polen oder Ungarn gezogen, wo in den vergangenen Jahren politische Mehrheiten versucht haben, die Justizkontrolle abzubauen – teils unter scharfem Protest der EU. Ob ein solcher Vergleich im Falle Italiens gerechtfertigt ist, wird kontrovers diskutiert. Unstrittig ist jedoch, dass die Verfassungsreform Melonis die größte Änderung des italienischen Justizsystems seit 1948 darstellen würde. Sie berührt die Verfassungsprinzipien der richterlichen Unabhängigkeit und der gegenseitigen Kontrolle der Gewalten in ihrem Kern.
Die Bewertung fällt daher entlang ideologischer Linien deutlich auseinander. Aus Sicht der Regierung handelt es sich um eine legitime Korrektur eines überfälligen Missstands: Man „schaffe ein ausgewogeneres System und halte ein konkretes Versprechen gegenüber den Italienern“, so Meloni[18]. Die Justiz bleibe unabhängig, werde aber entpolitisiert und effizienter. Die Gegner – sämtliche Oppositionsparteien, die Richtervereinigungen (ANM) und viele Verfassungsrechtler – sehen in der Reform hingegen eine Gefahr für den Rechtsstaat. Sie bezeichnen sie als „controriforma“ (Gegenreform) und rufen die Bevölkerung auf, diese im Referendum zu stoppen[55][46]. Elly Schlein, Vorsitzende der Demokratischen Partei, mahnt, „Demokratie ist kein Blankoscheck für die Regierungsmehrheit“[56] – die Verfassung setze Schranken zum Schutz der Bürgerrechte. Ob die Wähler im Frühjahr 2026 dieser Argumentation folgen oder dem Reformkurs der Regierung zustimmen, wird letztlich über die Zukunft der italienischen Justizordnung entscheiden. Die Volksabstimmung entwickelt sich so zu einem grundlegenden Stimmungstest* für die italienische Demokratie: Es steht nicht weniger als das künftige Verhältnis von Justiz und Politik auf dem Spiel.
Quellen: Offizielle Dokumente (Verfassungsartikel, Gesetzentwurf 1917) und Erläuterungen aus Regierung und Parlament[21][57]; Mitteilungen des Justizministeriums und Aussagen von Verantwortlichen (Meloni, Nordio)[18][19]; Stellungnahmen der Richtervereinigung ANM[46] und unabhängige Berichte seriöser Medien (ORF[1][3], FAZ, Euronews[58][13], taz[41][8]).
[1] [2] [3] [10] Justizreform ohne Zweidrittelmehrheit durch Italiens Parlament – news.ORF.at
https://orf.at/stories/3410028/
[4] [5] [43] [54] Gewaltenvereinigung – Wie die Meloni-Regierung die Kontrolle über die Justiz anstrebt | Heinrich Böll Stiftung | Paris – Frankreich
[6] [8] [24] [25] [39] [41] [42] Justizumbau in Italien: Schluss mit lästigen Korruptionsermittlungen | taz.de
https://taz.de/Justizumbau-in-Italien/!6124939/
[7] [9] [17] [19] [23] [26] [45] [46] [47] [49] [50] [51] [55] Approvata la riforma della Giustizia, Nordio: „Spero in un referendum non politicizzato“
[11] [13] [18] [27] [28] [29] [52] [56] [58] Sì del Senato alla riforma della giustizia, in primavera il referendum | Euronews
[12] [14] [15] [16] [20] [21] [22] [30] [31] [32] [33] [34] [35] [36] [37] [40] [44] Separazione delle carriere in pillole | Sistema Penale | SP
https://www.sistemapenale.it/it/scheda/separazione-delle-carriere-la-riforma-in-pillole
[38] [57] Legislatura 19ª – Aula – Resoconto stenografico della seduta n. 359 del 28/10/2025 | Senato della Repubblica
[48] [53] Riforma della Giustizia, parte la corsa al referendum. Nordio: „Non sia test contro il governo“
https://www.adnkronos.com/politica/riforma-giustizia-referendum-oggi-news_4ulhyJdFKwDLvlHXzuq6ft
