Haftpflichtversicherer scheitert mit Regressforderung im Fall eines tragischen Verkehrsunfalls

Oberlandesgericht Köln, 3 U 81/23 – Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Bonn vom 21.07.2023 – 1 O 254/22 – wird zurückgewiesen – Urteil vom 27.08.2024
Am 15. September 2018 ereignete sich auf der P.-Straße in H. ein folgenschwerer Verkehrsunfall. Der Unfall, der durch den stark alkoholisierten (1,7 Promille) und mit erheblich überhöhter Geschwindigkeit (150–160 km/h bei erlaubten 70 km/h) fahrenden Versicherungsnehmer eines Haftpflichtversicherers verursacht wurde, endete mit einem Frontalzusammenstoß auf der Gegenfahrbahn. Der Fahrer des unfallverursachenden Fahrzeugs verstarb noch an der Unfallstelle. Seine Fahrweise ließ den Unfall für die Fahrerin des kollidierten Fahrzeugs und deren Mitinsassen unvermeidbar erscheinen.
Eine Beifahrerin des betroffenen Fahrzeugs, Frau L., erlitt schwerste Verletzungen, darunter ein Schädel-Hirn-Trauma, Rippenserienfrakturen, multiple Frakturen sowie eine inkomplette Querschnittslähmung. Der Versicherer forderte im Wege des Gesamtschuldnerausgleichs von der Mitfahrerin auf der Rückbank einen Anteil von 70 % an den entstandenen Kosten, da die Verletzungen von Frau L. maßgeblich durch das verkehrswidrige Verhalten (Nichtanschnallen) der Beklagten verursacht worden seien. Doch das Gericht entschied zugunsten der Beklagten.
Die rechtliche Argumentation der Klägerin
Die Klägerin, eine Haftpflichtversicherung, hatte für die Schäden von Frau L. umfangreiche Entschädigungen geleistet, darunter 200.000 € Schmerzensgeld, 100.000 € für Haushaltsführungsschäden und Heilkosten sowie 81.099,44 € an Dritte. Insgesamt beanspruchte sie einen Betrag von 266.763,08 € sowie die Freistellung von künftigen Zahlungen in Höhe von 70 %. Sie argumentierte, dass die Beklagte durch den Verstoß gegen die Anschnallpflicht (§ 21a StVO) kausal die Rückenverletzungen der Geschädigten mitverursacht habe.
Zur Stützung ihrer Ansprüche verwies die Klägerin auf ein Unfallrekonstruktionsgutachten, das nahelegte, dass die unangeschnallte Beklagte mit ihren Knien gegen die Rückenlehne des Beifahrersitzes gestoßen sei, was die gravierenden Verletzungen im Rückenbereich der Geschädigten verursacht habe. Zudem sei die Anschnallpflicht nicht nur ein Eigenschutzgesetz, sondern diene auch dem Schutz anderer Insassen.
Die Verteidigung der Beklagten
Die Beklagte beantragte die Abweisung der Klage. Sie machte geltend, dass die alleinige Unfallverursachung beim Versicherungsnehmer der Klägerin liege, der aufgrund seines erheblichen Fehlverhaltens (Alkoholkonsum und überhöhte Geschwindigkeit) den Unfall verschuldet habe. Zudem fehle es an der Ursächlichkeit ihres Anschnallverstoßes für die Verletzungen der Geschädigten. Die Verletzungen seien auch bei angelegtem Gurt nicht zu verhindern gewesen, da die Kräfte auf die Rückenlehne des Beifahrersitzes aufgrund des Unfallverlaufs unabhängig von ihrem Verhalten gewirkt hätten.
Entscheidung des Gerichts
Das Landgericht wies die Klage ab, und auch das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Die wesentlichen Gründe waren:
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Fehlende Kausalität: Es konnte nicht eindeutig nachgewiesen werden, dass der Verstoß gegen die Anschnallpflicht ursächlich für die spezifischen Verletzungen der Geschädigten war.
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Abwägung der Verursachungsbeiträge: Selbst wenn eine Mitursächlichkeit der Beklagten unterstellt würde, trat ihr Verschulden hinter das erhebliche Fehlverhalten des Versicherungsnehmers der Klägerin zurück. Dieser hatte den Unfall durch eine Kombination aus massiver Geschwindigkeitsüberschreitung und Alkoholbeeinflussung überhaupt erst ermöglicht. Die von ihm ausgehende Gefährdung war so gravierend, dass ein etwaiges Fehlverhalten der Beklagten rechtlich unerheblich wurde.
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Schutzwirkung des § 21a StVO: Das Gericht bestätigte zwar, dass die Anschnallpflicht drittschützenden Charakter hat, also auch Mitinsassen schützt. Dennoch konnte aus diesem Umstand kein überwiegender Haftungsanteil der Beklagten hergeleitet werden.
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Systematik der Gesamtschuldnerhaftung: Für einen Gesamtschuldnerausgleich nach § 840 BGB ist eine Abwägung der Verursachungsbeiträge maßgeblich. Das schwerwiegende Fehlverhalten des Versicherungsnehmers der Klägerin ließ den Beitrag der Beklagten vollständig zurücktreten.
Bedeutung der Entscheidung
Das Urteil zeigt, dass im deutschen Haftungsrecht bei schweren Unfällen mit mehreren Beteiligten die Abwägung der Verursachungsbeiträge eine zentrale Rolle spielt. Selbst wenn ein Mitfahrer gegen die Anschnallpflicht verstößt, führt dies nicht automatisch zu einer Haftung im Gesamtschuldnerausgleich, insbesondere dann, wenn die Hauptursache des Unfalls auf schwerwiegendem Fehlverhalten anderer Beteiligter beruht.
Zudem bestätigt das Urteil die Rechtsprechungslinie, dass die Anschnallpflicht auch Dritte schützt, jedoch der Schutzumfang nicht unbesehen zu einer Mithaftung führt. Das Maß der Verursachung und das Verschulden müssen konkret bewertet werden.