Modernisierung des Produkthaftungsrechts
Modernisierung des Produkthaftungsrechts: Der Referentenentwurf zur Umsetzung der neuen EU-Produkthaftungsrichtlinie
Sachverhalt – Hintergründe – Inhalt und rechtliche Einordnung des Entwurfs
I. Ausgangslage und Regelungsanlass
Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat einen Referentenentwurf für ein Gesetz zur Modernisierung des Produkthaftungsrechts vorgelegt. Anlass ist die Umsetzung der Richtlinie (EU) 2024/2853 über die Haftung für fehlerhafte Produkte, mit der die bisherige Richtlinie 85/374/EWG vollständig abgelöst wird. Die Umsetzungsfrist endet am 9. Dezember 2026.
Das geltende deutsche Produkthaftungsgesetz stammt im Kern aus dem Jahr 1989. Es war auf klassische industrielle Produkte zugeschnitten und erfasst zentrale Entwicklungen der letzten Jahrzehnte – insbesondere Software, KI-Systeme, digitale Dienste, vernetzte Produkte und globale Wertschöpfungsketten – nur unzureichend. Der Gesetzgeber reagiert damit auf eine strukturelle Haftungslücke, die sowohl verbraucherschutzrechtlich als auch marktwirtschaftlich problematisch geworden ist .
II. Regelungsziele und systematischer Hintergrund
Der Entwurf verfolgt drei übergeordnete Ziele:
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Anpassung an die Digitalisierung
Software wird erstmals ausdrücklich als Produkt in die Produkthaftung einbezogen, unabhängig von ihrer Verkörperung oder Bereitstellungsform (lokal, cloudbasiert, updatefähig). Damit unterfallen auch KI-Systeme dem verschuldensunabhängigen Haftungsregime. -
Abbildung moderner Wertschöpfungs- und Vertriebsketten
Neben dem klassischen Hersteller werden künftig auch Importeure, Beauftragte, Fulfilment-Dienstleister, Lieferanten und unter bestimmten Voraussetzungen Anbieter von Online-Plattformen haftungsrechtlich einbezogen. -
Erleichterung der Anspruchsdurchsetzung bei komplexen Produkten
Durch neue Offenlegungspflichten und gesetzliche Beweisvermutungen wird die strukturelle Informationsasymmetrie zwischen Geschädigten und Herstellern reduziert.
Der Entwurf ist unionsrechtlich vollharmonisierend angelegt; nationale Abweichungen sind nur in ausdrücklich zugelassenen Sonderbereichen (etwa Arzneimittel- und Gentechnikhaftung) möglich .
III. Zentrale Inhalte des Gesetzentwurfs
1. Neuer Produktbegriff und Einbeziehung von Software
Der Produktbegriff wird erheblich erweitert. Produkte sind künftig unter anderem:
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bewegliche Sachen und Elektrizität,
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Software, unabhängig von ihrer Bereitstellung,
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digitale Konstruktionsunterlagen (z. B. 3D-Druck-Vorlagen).
Ausgenommen bleibt lediglich Open-Source-Software, sofern sie außerhalb einer Geschäftstätigkeit entwickelt oder bereitgestellt wird. Damit wird ein bewusster Ausgleich zwischen Innovationsfreiheit und Haftungszurechnung geschaffen.
2. Fehlerbegriff und Beurteilungsmaßstab
Ein Produkt ist fehlerhaft, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die nach Unions- oder nationalem Recht vorgeschrieben ist oder berechtigterweise erwartet werden darf. Neu ist insbesondere, dass bei der Fehlerbeurteilung ausdrücklich zu berücksichtigen sind:
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Selbstlernfähigkeiten von Produkten,
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Wechselwirkungen mit anderen Produkten,
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sicherheitsrelevante Cybersicherheitsanforderungen,
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Software-Updates, Upgrades und verbundene digitale Dienste.
Entscheidend ist nicht mehr ausschließlich der Zustand beim erstmaligen Inverkehrbringen. Behält der Hersteller faktisch die Kontrolle über das Produkt (etwa durch Updates), kann sich der relevante Beurteilungszeitpunkt nach hinten verlagern.
3. Haftung bei wesentlichen Produktänderungen
Wer ein Produkt nach dem Inverkehrbringen wesentlich verändert und erneut auf dem Markt bereitstellt, gilt haftungsrechtlich als Hersteller. Maßgeblich ist, ob sich Zweck, Leistung oder Risikoprofil des Produkts ändern.
Diese Regelung trägt insbesondere der Kreislaufwirtschaft, dem Upcycling und der Re-Use-Ökonomie Rechnung, ohne pauschal jede Modifikation haftungsbegründend zu machen.
4. Erweiterter Schadensbegriff
Neben Personen- und Sachschäden werden künftig auch Schäden an nicht beruflich genutzten Daten ersetzt. Damit wird ein bislang nicht erfasster, wirtschaftlich hochrelevanter Schadensbereich ausdrücklich in die Produkthaftung einbezogen.
Gleichzeitig entfallen:
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die bisherige Selbstbeteiligung bei Sachschäden,
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die Haftungshöchstgrenze bei Personenschäden.
5. Haftung weiterer Akteure
Ist der Hersteller außerhalb der EU ansässig, können geschädigte Personen ihre Ansprüche auch gegen folgende Akteure richten:
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Importeure,
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EU-Beauftragte des Herstellers,
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Fulfilment-Dienstleister,
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Lieferanten (nachrangig),
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Anbieter bestimmter Online-Plattformen, sofern sie aus Sicht eines Durchschnittsverbrauchers als Anbieter des Produkts auftreten.
Damit wird die Durchsetzbarkeit von Ansprüchen im Binnenmarkt erheblich verbessert.
6. Neues Beweisrecht: Offenlegung und Vermutungen
Ein zentraler Paradigmenwechsel liegt im Beweisrecht:
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Gerichte können die Offenlegung relevanter Beweismittel anordnen, wenn der Anspruch plausibel dargelegt ist.
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Bei Nichtbefolgung greifen gesetzliche Vermutungen zugunsten des Geschädigten.
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Bei technisch oder wissenschaftlich hochkomplexen Produkten genügt unter Umständen der Wahrscheinlichkeitsnachweis.
Gleichzeitig enthält der Entwurf differenzierte Schutzmechanismen für Geschäftsgeheimnisse.
IV. Inkrafttreten und Übergangsrecht
Das neue Produkthaftungsgesetz soll am 9. Dezember 2026 in Kraft treten. Für Produkte, die bis zu diesem Zeitpunkt in Verkehr gebracht wurden, gilt weiterhin das bisherige Recht. Damit wird Rechtssicherheit für laufende Produktzyklen gewährleistet.
Der Entwurf markiert einen Systemwechsel im Produkthaftungsrecht.
Aus ökonomischer Sicht stärkt dies die Anreizstruktur für sichere Produktgestaltung, insbesondere im digitalen Bereich. Aus rechtlicher Sicht ist der Entwurf in das bestehende Haftungssystem neben §§ 823 ff. BGB eingebettet.
Die praktische Bedeutung wird insbesondere dort liegen, wo Software, KI-Systeme und digitale Dienste bislang außerhalb klarer haftungsrechtlicher Zurechnung standen.
Stand: Referentenentwurf des BMJ, Umsetzung der Richtlinie (EU) 2024/2853
