Windenergieanlagen und artenschutzrechtliches Tötungsverbot – BVerwG

Ergänzendes Verfahren für Windenergieanlagen im Landkreis Göttingen
Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG), Az. 7 C 10.24, Urteil vom 11. September 2025, zum Thema „Ergänzendes Verfahren für Windenergieanlagen im Landkreis Göttingen“.
Sachverhalt
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Im Landkreis Göttingen (Niedersachsen) soll die Genehmigung für den Bau und Betrieb von fünf Windenergieanlagen erteilt werden.
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Die Anlagen befinden sich ca. 1.300 Meter nordöstlich eines Vogelschutzgebiets und westlich eines Flora-Fauna-Habitat-Gebiets („FFH-Gebiet“).
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Maßnahmen zum Schutz gefährdeter Greifvögel (insbesondere des Rotmilans) wurden als Nebenbestimmungen festgelegt, z. B. Abschaltungen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang während der Monate März bis August.
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Eine anerkannte Umweltvereinigung klagt gegen die immissionsschutzrechtliche Genehmigung. Ihre zentralen Einwände sind:
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Es sei keine Natura-2000-Verträglichkeitsprüfung (Gebietsverträglichkeitsprüfung) durchgeführt worden, obwohl dies nötig gewesen sei.
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Die Prüfung des artenschutzrechtlichen Tötungsverbots habe nicht ausreichend berücksichtigt, dass zukünftige, sehr wahrscheinliche Ansiedlungen von Vögeln möglich seien.
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Das Oberverwaltungsgericht (OVG) Lüneburg hat in der Vorinstanz festgestellt, dass die Genehmigung rechtswidrig und nicht vollziehbar ist, und dass ein ergänzendes Verfahren erforderlich sei. Insbesondere bemängelte das Gericht das Fehlen der Verträglichkeitsprüfung und die unzureichende Prognose möglicher zukünftiger Auswirkungen auf Greifvögel. Außerdem sah es keine Möglichkeit, Genehmigungserleichterungen zu nutzen, die sich aus der EU-Notfallverordnung oder dem Windenergieflächenbedarfsgesetz ergeben, da zu diesem Zeitpunkt der Antrag auf Erleichterungen bereits zu spät erfolgte.
Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts
Das BVerwG hat in seiner Entscheidung vom 11. September 2025 die Revision der beigeladenen Vorhabenträgerin abgewiesen und das Erfordernis eines ergänzenden Verfahrens bejaht. Die wesentlichen Leitsätze und Argumente:
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Ergänzendes Verfahren & Natura-2000-Verträglichkeitsprüfung
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Auch wenn ein Vorhaben außerhalb eines Vogelschutzgebiets liegt: Es kann sich so auf das Schutzgebiet auswirken, dass eine Gebietsverträglichkeitsprüfung erforderlich ist, wenn nicht schon durch eine bloße Vorprüfung sichergestellt werden kann, dass „erhebliche Beeinträchtigungen“ ausgeschlossen sind. Das ist dann der Fall, wenn die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz Zweifel aufwerfen.
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Im konkret entschiedenen Fall sind erhebliche Beeinträchtigungen nicht offensichtlich ausgeschlossen, u.a. weil:
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Einzelverluste des Rotmilans schon den Erhaltungszustand im Vogelschutzgebiet erheblich beeinträchtigen können.
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Vögel (Rotmilane), die im Vogelschutzgebiet leben, regelmäßig zur Nahrungssuche über das Gebiet und das benachbarte FFH-Gebiet fliegen und somit eine Verbindung besteht.
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Daraus folgt: Die fehlende Natura-2000-Verträglichkeitsprüfung muss in einem ergänzenden Verfahren nachgeholt werden.
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Artenschutzrechtliches Tötungsverbot
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Die Prüfung des Tötungsverbots nach dem Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) wurde vom BVerwG nicht beanstandet.
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Denn die Beurteilung ist auf den gegenwärtigen Bestand geschützter Tiere zum Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung beschränkt. Prognosen über zukünftige Entwicklungen sind grundsätzlich nicht maßgeblich für die Genehmigungserteilung.
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Sollten nachträglich neue Erkenntnisse eintreten, kann ein Widerruf oder nachträgliche Anordnung geprüft werden.
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Genehmigungserleichterungen
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Erleichterungen etwa durch die EU-Notfallverordnung oder das Windenergieflächenbedarfsgesetz kamen nicht zur Anwendung, weil das Genehmigungsverfahren zu dem Zeitpunkt, als etwaige Erleichterungen hätten beantragt werden können, bereits abgeschlossen war bzw. eine endgültige behördliche Entscheidung vorlag.
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Juristische und ökologische Einordnung
Rechtlicher Hintergrund
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Natura 2000-Gebiete: Vogelschutzgebiete und FFH-Gebiete genießen einen besonderen Schutz in der EU-Rechtsordnung. Projekte, die entweder innerhalb solcher Gebiete oder außerhalb liegen, aber möglicherweise Auswirkungen haben, bedürfen einer Verträglichkeitsprüfung gemäß den Richtlinien.
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Gebietsschutz vs. Artenschutz: Der Gebietsschutz (Natura 2000, Vogelschutzrichtlinie) zielt darauf ab, Populationen und Lebensräume stabil zu halten, während der besondere Artenschutz (z. B. das Tötungsverbot) den Schutz individueller Tiere betrifft. Das Urteil unterstreicht die Unterscheidung, verlangt aber, dass Gebietsschutz nicht leichtfertig umgangen wird.
Bedeutung der Entscheidung
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Das Urteil stärkt die Anforderungen an die Behörden: Nicht nur formale Nähe oder Ferne zu Schutzgebieten, sondern tatsächliche Wirkungen sind entscheidend.
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Es zeigt, dass selbst bei Vorhaben außerhalb von Schutzgebieten ein ergänzendes Verfahren einzuleiten ist, wenn nicht klar ausgeschlossen werden kann, dass erhebliche Beeinträchtigungen entstehen.
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Für Naturschutzverbände ist bestätigt, dass Eingriffe auch außerhalb geschützter Zonen auf mögliche Wirkungen gem. Natura 2000 geprüft werden müssen, nicht nur abstrakt, sondern anhand der konkreten Umstände.
Presse und öffentliche Reaktionen
Aus der verfügbaren Berichterstattung (z. B. vhw – Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung) ergibt sich:
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Die Entscheidung findet Beachtung gerade in Kreisen, die sich mit Genehmigungsverfahren für Windenergie, Naturschutz und Raumordnung befassen. (vhw.de)
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In diesen Kreisen wird insbesondere hervorgehoben, dass das Urteil Transparenz und Qualität der Prüfverfahren steigern wird. Es wird erwartet, dass künftig bei Genehmigungen verstärkt auf detaillierte Vorarbeiten geachtet wird.
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Es gibt jedoch auch Sorge, dass die Anforderungen an Vorprüfungen bzw. ergänzende Verfahren den Ausbau der Windenergie verzögern könnten – insofern stellt das Urteil einen Balanceakt zwischen Klimaschutzziel und Naturschutz dar.
Praktische Konsequenzen
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Für Genehmigungsbehörden: Sie müssen künftig sorgfältiger einschätzen, ob ein Vorhaben außerhalb eines Schutzgebietes potenziell erhebliche Beeinträchtigungen herbeiführen kann. Wenn nicht sicher auszuschließen, ist eine Verträglichkeitsprüfung zu verlangen.
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Für Vorhabenträger: Schon in frühen Verfahrensstadien sollte geprüft werden, ob ein Gebietsschutz betroffen sein könnte – ggf. müssen Daten gesammelt werden (z. B. über Flugrouten von Greifvögeln), um zu belegen, dass keine Beeinträchtigungen vorliegen.
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Für Naturschutzverbände und Gerichte: Stärkere Handhabe, um auf fehlende Verträglichkeitsprüfungen oder unzureichende Bestandsbewertungen hinzuweisen.
Das BVerwG-Urteil 7 C 10.24 vom 11. September 2025 stellt eine wichtige Klärung dar: Auch Vorhaben außerhalb von Vogelschutz- oder Natura-2000-Gebieten können Verträglichkeitsprüfungen erfordern, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie dem Schutzgebiet erhebliche Beeinträchtigungen zufügen. Gleichzeitig bleibt das artenschutzrechtliche Tötungsverbot an den gegenwärtigen Bestand zum Zeitpunkt der Entscheidung gebunden, nicht an zukünftige Entwicklungen.
Windenergieanlagen und Naturschutz – ein Gegensatz?
Sowohl das Grundgesetz (Art. 20a GG) als auch die EU-Rechtsordnung verpflichten den Staat, die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen – dazu gehört auch die Begrenzung des Klimawandels.
Windenergie trägt also mittelbar auch zum Schutz von Arten und Lebensräumen bei, wenn der Ausstoß fossiler Treibhausgase wirksam reduziert werden kann.
Konfliktpotenzial: Artenschutz und Flächenkonkurrenz
Gleichzeitig erzeugen WEA (Windenergieanlagen) konkrete naturschutzrechtliche Konflikte:
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Artenschutz:
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Gefährdete Greifvögel wie Rotmilan oder Seeadler sowie Fledermäuse sind anfällig für Kollisionen mit Rotorblättern.
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Das Tötungsverbot (§ 44 BNatSchG) greift bereits, wenn ein signifikant erhöhtes Risiko besteht, dass Tiere durch den Betrieb der Anlagen getötet werden.
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Lebensraum und Landschaft:
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WEA beanspruchen Flächen, oft in Waldgebieten oder in der Nähe ökologisch wertvoller Zonen.
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Bau und Zuwegung können Biotope zerschneiden oder sensible Lebensräume beeinträchtigen.
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Gebietsschutz (Natura 2000):
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Auch wenn Anlagen außerhalb liegen, können sie Schutzgebiete beeinträchtigen (z. B. durch Störung von Flugrouten oder Brutplätzen).
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Klimapolitische Ziele kollidieren mit den Anforderungen des strengen Artenschutz- und Gebietsrechts.
Rechtliche Leitlinien
Die Gerichte – insbesondere das BVerwG – haben klargestellt:
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Klimaschutz und Naturschutz sind gleichrangige Umweltgüter.
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WEA sind zulässig, wenn durch sorgfältige Prüfung und Auflagen sichergestellt wird, dass erhebliche Beeinträchtigungen für Arten oder Schutzgebiete ausgeschlossen sind.
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Instrumente sind z. B.:
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zeitweise Abschaltungen (z. B. in Brut- oder Zugzeiten),
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Standortwahl auf weniger sensible Flächen,
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technische Maßnahmen (Fledermausdetektoren, Kamerasysteme).
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Opportunitätskosten der Windenergie an Land
Opportunitätskosten sind die entgangenen Nutzen, die sich ergeben, wenn man sich für eine bestimmte Option (hier: Windenergieanlagen an Land) und gegen Alternativen entscheidet.
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Naturschutzbezogen:
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Flächen, die für Windenergie genutzt werden, können nicht gleichzeitig als Rückzugsraum für Tiere, Forstwirtschaft oder Tourismus genutzt werden.
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Jeder Standort bindet Ressourcen und erzeugt Konflikte, die nicht für andere Schutz- oder Nutzungszwecke verfügbar sind.
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Energiepolitisch:
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Ein starkes Festhalten an Windkraft an Land kann dazu führen, dass andere Technologien (z. B. Geothermie, Offshore-Wind, Kernenergie, Speichertechnologien) weniger Aufmerksamkeit und Förderung erhalten.
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Verzögerungen durch Klageverfahren oder Konflikte im Artenschutz erhöhen die Transaktionskosten des Ausbaus – Zeit und Kapital werden gebunden.
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Gesamtwirtschaftlich:
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Flächenkonflikte zwischen Landwirtschaft, Naturschutz und Energiewirtschaft bedeuten, dass Opportunitätskosten nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch erheblich sind.
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Ökonomische Dimension
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Ausbauziele: Deutschland will zur Erreichung seiner Klimaziele bis 2030 die Stromerzeugung aus Windkraft massiv steigern. Das führt zu einem hohen Flächendruck.
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Rechtsstreitigkeiten: Verzögerungen durch Klagen von Umweltverbänden sind häufig – aber juristisch unvermeidlich, weil sie auf die Einhaltung des strengen EU-Naturschutzrechts drängen.
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Planungssicherheit: Eine frühzeitige und transparente Verträglichkeitsprüfung ist für Projektträger wirtschaftlich entscheidend.
Kein zwingender Widerspruch
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Windenergie und Naturschutz sind nicht per se Gegensätze, sondern verfolgen letztlich dasselbe übergeordnete Ziel: Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen.
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Die Konflikte entstehen im konkreten Vollzug: Dort, wo eine Anlage das Risiko für geschützte Arten oder bestimmte Lebensräume erhöht.
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Juristisch gilt: WEA sind zulässig, aber nur unter strenger Beachtung des Artenschutzes und nach gründlicher Gebietsverträglichkeitsprüfung.
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Politisch-ökonomisch bedeutet das: Nur mit klugen Flächenkonzepten, technischer Innovation und klaren Verfahren lässt sich der Ausbau der Windenergie mit dem Schutz von Arten und Lebensräumen vereinbaren.