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Demokratie im Kurzformat: Was junge Menschen von politischer Kommunikation online erwarten

Arbeitsrecht – Erbrecht - Kommunalrecht

Demokratie im Kurzformat: Was junge Menschen von politischer Kommunikation online erwarten

Schüler mit Handy

Analyse der Studie „How to Sell Democracy Online (Fast)“

Gegenstand und Befunde der Studie

Die im September 2025 veröffentlichte Studie „How to Sell Democracy Online (Fast)“ untersucht, wie junge Menschen zwischen 16 und 27 Jahren politische Inhalte auf Social-Media-Plattformen wie Instagram und TikTok wahrnehmen. Grundlage sind über 31.000 analysierte Kurzvideos, eine repräsentative Online-Befragung und Fokusgruppeninterviews

Die zentralen Ergebnisse lassen sich in vier Thesen bündeln:

  1. Soziale Medien als primäre Informationsquelle: Für junge Menschen zwischen 16 und 27 Jahren sind Social Media (74 %) der wichtigste Zugang zu politischen Informationen – noch vor Schule, Familie und klassischen Medien.

  2. Technische Mindeststandards: Politische Kurzvideos werden nur dann akzeptiert, wenn sie frei von Störungen sind – d. h. klare Tonspur und stabile Kameraführung. Aufwendige Bearbeitungen, Filter oder Effekte sind weder erforderlich noch erwünscht (nur 17 % wünschen sich dies).

  3. Inhaltliche Erwartungen: Entscheidend sind Verständlichkeit (68 % erwarten einfache Sprache), Authentizität (81 % betonen Ehrlichkeit) und Menschlichkeit (62 % erwarten eine persönliche Ansprache und nahbares Auftreten).

  4. Reichweitenlogik und Demokratiegefährdung: Während moderat-demokratische Akteur:innen an Reichweite verlieren, erzielen populistische und radikale Kräfte überproportionale Sichtbarkeit. Dies hängt mit Plattformarchitekturen und Empfehlungsalgorithmen zusammen, die emotionalisierte und polarisierende Inhalte bevorzugen.


Bedeutung für Rechtsstaat und politische Kommunikation

Demokratische Öffentlichkeit im digitalen Raum

Die Ergebnisse verweisen auf einen grundlegenden Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit. Politische Kommunikation findet zunehmend in algorithmisch gesteuerten Feeds statt, die weder durch redaktionelle Filter noch durch professionelle journalistische Gatekeeper kontrolliert werden. Damit entstehen neue Herausforderungen für den Schutz der Meinungsvielfalt (Art. 5 Abs. 1 GG) und die Integrität demokratischer Willensbildung (Art. 20 GG).

Der Rechtsstaat ist auf eine funktionsfähige Öffentlichkeit angewiesen, in der Bürger:innen zwischen Fakten und Fiktionen unterscheiden können. Wenn jedoch die Trennung zwischen politischer Information und Unterhaltung verwischt, gerät die Wahrnehmungsfähigkeit demokratischer Prozesse unter Druck.

Wahrnehmung von Fiktion und Non-Fiktion

Die Studie zeigt, dass junge Menschen politische Inhalte auf denselben Plattformen rezipieren, auf denen sie auch Unterhaltung konsumieren. Die Grenzen zwischen fiktionaler Inszenierung (Memes, Trends, Challenges) und non-fiktionaler politischer Information sind fließend.

Damit verbunden ist die Gefahr einer Entkontextualisierung politischer Aussagen: Verkürzte Clips werden ohne Quelle oder Gegenrede konsumiert, wodurch normative Grundlagen des demokratischen Diskurses – Transparenz, Nachprüfbarkeit, Kontextualisierung – gefährdet sind. Aus rechtstaatlicher Perspektive droht eine Erosion der deliberativen Demokratie, wenn Wahrheitsgehalte und Fiktion nicht mehr unterscheidbar sind.

Anforderungen an Politik und Institutionen

Für Parteien, Parlamente und staatliche Institutionen ergibt sich eine Verpflichtung zur aktiven Kommunikationsstrategie im digitalen Raum. Juristisch ergibt sich dies mittelbar aus der Bestands- und Entwicklungsgarantie der Demokratie (Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 GG; BVerfGE 44, 125 – Wahlwerbespots).

Die Studie liefert Kriterien für rechtmäßige und wirksame Kommunikation:

  • Professionell, aber nicht künstlich: Technische Fehlerfreiheit ist Mindeststandard; aufwendige Effekte sind nicht erforderlich.

  • Klarheit und Ehrlichkeit: Transparente Botschaften sind geboten; Manipulation durch gestalterische Tricks verstößt gegen das Gebot der politischen Wahrhaftigkeit.

  • Menschlichkeit statt Inszenierung: Politische Kommunikation soll persönliche Nähe herstellen, ohne in bloße Unterhaltung abzurutschen.

Damit entsteht ein neuer Maßstab für „angemessene“ politische Kommunikation, der rechtlich an die Grundsätze der Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 GG, Art. 3 GG) und den Schutz vor Desinformation gekoppelt werden muss.

Regulierungsperspektive

Die Ergebnisse der Studie korrespondieren mit den regulatorischen Pflichten des Digital Services Act (DSA), der algorithmische Transparenz und Risikobewertungen verlangt. Aus deutscher Perspektive folgt hieraus eine staatliche Gewährleistungsverantwortung, die sicherzustellen hat, dass auch moderat-demokratische Inhalte Sichtbarkeit im digitalen Raum erhalten.


Schlussfolgerung

Die Studie zeigt: Demokratie muss „im Kurzformat“ vermittelbar sein, ohne dabei an Wahrhaftigkeit und Rationalität zu verlieren. Für den Rechtsstaat bedeutet das, die Kommunikationsformen der Gegenwart ernst zu nehmen – nicht als Frage von Klickzahlen, sondern als Kernbestand demokratischer Legitimation.

Politische Institutionen, Parteien und Mandatsträger:innen sind rechtlich wie politisch verpflichtet, junge Menschen dort zu erreichen, wo sie ihre Wirklichkeit wahrnehmen: auf TikTok und Instagram. Gelingt dies nicht, droht eine Verschiebung der politischen Sozialisation hin zu populistischen und extremistischen Akteuren.


Demokratische Kommunikation im digitalen Raum ist daher kein „Add-on“, sondern eine notwendige Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit des Rechtsstaats im 21. Jahrhundert


Parteien

Parteien sind nach Art. 21 GG zentrale Träger der politischen Willensbildung. Aus der Studie folgt:

  • Sie müssen ihre Kommunikationsstrategien plattformgerecht ausrichten – nicht mehr nur Pressemitteilungen und Parteitage, sondern authentische Kurzvideos.

  • Gleichzeitig sind sie verpflichtet, wahrhaftig und transparent zu kommunizieren (vgl. BVerfGE 44, 125 – Wahlwerbespots). Manipulative Techniken, die eher auf Aufmerksamkeit als auf Inhalt setzen, laufen dem Grundsatz der politischen Chancengleichheit zuwider.

  • Parteien, die diese Kommunikationsform vernachlässigen, riskieren Relevanzverlust bei der jungen Generation und damit mittelbar auch eine Schwächung demokratischer Legitimation.


Staat

Der Staat hat keine eigene politische Meinung, aber eine Gewährleistungsverantwortung für die demokratische Öffentlichkeit (Art. 20 GG, Demokratieprinzip).

  • Über den Digital Services Act (DSA) und nationale Umsetzungsgesetze ist er verpflichtet, Plattformen zu kontrollieren, deren Algorithmen demokratische Debatten verzerren können.

  • Staatliche Institutionen müssen außerdem selbst kommunikativ präsent sein, um Bürger:innen verlässliche Informationen im digitalen Raum zugänglich zu machen (z. B. Wahlleitungen, Parlamente, Ministerien).

  • Das Ziel ist nicht Wahlwerbung, sondern Transparenz staatlichen Handelns und die Sicherung einer faktenbasierten Öffentlichkeit.


Medien

Medien – vor allem klassische Redaktionen – haben die Aufgabe, Inhalte einzuordnen, zu prüfen und Kontext herzustellen.

  • Sie dienen als Filter und Korrektiv gegen die fragmentierte Logik von TikTok-Feeds.

  • Indem sie auch selbst Kurzvideos bereitstellen, können sie journalistische Standards (Quellenprüfung, Ausgewogenheit) in den digitalen Raum übertragen.


Öffentlich-rechtliche Medien

Die besondere Stellung der ÖRR folgt aus Art. 5 Abs. 1 GG (Bestands- und Entwicklungsgarantie).

  • Ihre Aufgabe ist es, zugängliche, glaubwürdige und ausgewogene Inhalte für alle Altersgruppen bereitzustellen – und das gilt auch auf Instagram und TikTok.

  • Die Studie zeigt, dass junge Menschen Authentizität und Ehrlichkeit über Show-Effekte stellen. Hier haben ARD und ZDF die Chance, professionelle, leicht verständliche Formate zu produzieren, die Informationsqualität sichern.

  • Öffentlich-rechtliche Medien sind damit Brücke zwischen Rechtsstaat und Jugendöffentlichkeit: Sie können die Trennung von Fiktion und Non-Fiktion stärken, indem sie geprüfte Informationen in den dominierenden Kommunikationsformaten verbreiten.


Parteien müssen überzeugender, der Staat regulierender und transparenter, Medien kritisch einordnend und die Öffentlich-Rechtlichen garantierend auftreten. Nur im Zusammenspiel dieser Rollen kann die demokratische Öffentlichkeit im digitalen Raum stabilisiert werde

 

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