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Fehlende Beleihung der IB.SH bei Corona-Hilfsprogrammen – Rechtsgrundlagen, Folgen und Einordnung der VGH-BW-Urteile vom 8.10.2025

Arbeitsrecht – Erbrecht - Kommunalrecht

Fehlende Beleihung der IB.SH bei Corona-Hilfsprogrammen – Rechtsgrundlagen, Folgen und Einordnung der VGH-BW-Urteile vom 8.10.2025

Corona-Virus

Die Investitionsbank Schleswig-Holstein (IB.SH) erließ in Corona-Hilfsprogrammen Rückforderungs- und Schlussablehnungsbescheide. Dreh- und Angelpunkt ist, ob die IB.SH hierfür hoheitlich tätig werden durfte. Das setzt eine gesetzliche Beleihung oder einen hinreichend bestimmten Beauftragungsakt voraus (Art. 33 Abs. 4 GG). Liegt eine solche Grundlage nicht vor, fehlt die Behördeneigenschaft i. S. v. § 3 LVwVfG SH; „Bescheide“ wären dann nichtig bzw. zivilrechtlich zu qualifizieren, der Verwaltungsrechtsweg wäre nicht eröffnet. Zusätzlich greifen formelle Schranken (insbes. § 48 Abs. 4 LVwVfG SH – Jahresfrist) sowie materielle Anforderungen (Bestimmtheit, Billigkeits-/Ermessensausübung). Obergerichtliche Rückendeckung liefert der VGH Baden-Württemberg mit sechs Musterurteilen vom 8.10.2025 zu gleich gelagerten Rückforderungen der L-Bank: Unklare Verwendungszwecke und schematische Rückforderungen genügen dem Verwaltungsrecht nicht.


1. Rechtsrahmen: Beleihung und Behördeneigenschaft

1.1 Art. 33 Abs. 4 GG – „Hoheitsrechte nur auf Grund eines Gesetzes“

Die Ausübung hoheitlicher Befugnisse durch Nicht-Behörden erfordert eine spezifische gesetzliche Ermächtigung (Beleihung) oder einen inhaltlich hinreichend bestimmten, normativ gedeckten Beauftragungsakt. Ohne diese Grundlage fehlt die Befugnis, Verwaltungsakte gegenüber Dritten zu erlassen.

1.2 Landesrechtliche Verankerung (Schleswig-Holstein)

  • § 3 LVwVfG SH definiert den Behördenbegriff funktional. Maßgeblich ist öffentlich-rechtliche Aufgabenwahrnehmung kraft Hoheitsgewalt.

  • Investitionsbankgesetz (IBG SH) und Satzung der IB.SH ordnen die IB.SH als rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts des Landes ein; sie ist das zentrale Förderinstitut. Die Geschäftsführung ist „nach kaufmännischen Grundsätzen“ zu führen; zugleich ist die Tätigkeit nicht auf Gewinnerzielung ausgerichtet (Satzung, § 3 Abs. 1).

  • § 8 IBG SH (Aufgabenübertragung): Aufgaben werden durch öffentlich-rechtliche Verträge übertragen. Eine generelle Beleihungsnorm mit hoheitlichen Befugnissen enthält das IBG SH gerade nicht.

Konsequenz: Für die hoheitliche Bewilligung, Schlusszeichnung und Rückforderung von Bundes-/Landesmitteln durch die IB.SH bedarf es eines konkreten Beleihungs- oder Beauftragungsakts (Gesetz, Verordnung, öffentlich-rechtlicher Vertrag). Ohne Vorlage eines solchen Akts ist die IB.SH keine Behörde i. S. d. LVwVfG SH für diese Tätigkeit.


2. Rechtsfolgen fehlender Beleihung

  1. Zuständigkeit / Rechtsweg: Fehlt die Beleihung, fehlt die Befugnis zum Erlass von Verwaltungsakten. Rückforderungen wären zivilrechtliche Ansprüche; zuständig wäre die ordentliche Gerichtsbarkeit, nicht das VG (vgl. § 40 Abs. 1 VwGO).

  2. Form der Geltendmachung: Statt „Bescheid“ wäre eine Rückforderungserklärung im Zivilrechtsverhältnis (z. B. aus AGB/Richtlinie/Vertrag) zu prüfen.

  3. Kontrollmaßstab: Kein Verwaltungsverfahrensrecht (Bestimmtheit, Fristen des § 48 LVwVfG, Billigkeitsermessen) – sondern AGB-/Vertragsrecht, Transparenz- und Inhaltskontrolle (§§ 305 ff. BGB), ggf. bereicherungsrechtliche Rückabwicklung.

  4. Nichtigkeit/Unwirksamkeit: Ein „Bescheid“ ohne hoheitliche Befugnis ist regelmäßig rechtswidrig; je nach Ausgestaltung kommt Nichtigkeit in Betracht (Qualifikation als Scheinverwaltungsakt).


3. Selbst wenn eine Beleihung bestünde: Strenge verwaltungsrechtliche Schranken

3.1 Jahresfrist des § 48 Abs. 4 LVwVfG SH

Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts nur binnen eines Jahres ab positiver Kenntnis aller maßgeblichen Tatsachen. Die Frist ist Ausschlussfrist; Fristversäumnis macht die Rücknahme rechtswidrig, selbst bei objektiv fehlerhaftem Ausgangsbescheid (st. Rspr. BVerwG).

3.2 Bestimmtheit (§ 37 LVwVfG SH) und Widerrufstatbestände (§ 49 LVwVfG SH)

Rückforderung wegen „Zweckverfehlung“ setzt voraus, dass der Verwendungszweck im Bewilligungsbescheid klar, bestimmt und erkennbar festgelegt war (z. B. Liquiditätsengpass-Definition, Referenzzeitraum, Berechnungsmethode). Nachträgliche Präzisierungen oder Portalsoftware ersetzen nicht die Primärbestimmtheit des Verwaltungsakts.

3.3 Billigkeit/Ermessen (§ 12 LVwVfG SH, § 59 LHO SH)

„Billigkeit“ ist kein Freibrief, sondern ein Härte-Korrektiv. Behördliche Entscheidungen müssen Einzelfallgerechtigkeit herstellen, die persönlich-wirtschaftliche Situation würdigen und dies dokumentieren. Schematische Rückforderungen ohne Ermessensgebrauch sind ermessensfehlerhaft.


4. Urteile des VGH Baden-Württemberg vom 8.10.2025 – Kernaussagen und Relevanz

Der 14. Senat des VGH Baden-Württemberg entschied in sechs Musterverfahren zur Rückzahlung von Corona-Soforthilfen (Bewilligung durch die L-Bank):

  • Vier L-Bank-Berufungen zurückgewiesen (Friseur, Hotel/Restaurant, IT-Unternehmen, Hersteller Pflegeprodukte).

  • Eine Kläger-Berufung erfolglos (Fahrschule) – Rückforderung blieb bestehen.

  • Eine Kläger-Berufung erfolgreich (Winzer) – Rückforderung aufgehoben.

  • Revision nicht zugelassen; Nichtzulassungsbeschwerde möglich.

  • Schriftliche Gründe werden (stand jetzt) nachgereicht.

4.1 Maßgeblicher Widerrufstatbestand

Die L-Bank stützte Widerrufe auf § 49 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 LVwVfG BW („Leistung nicht für den im Bewilligungsbescheid bestimmten Zweck verwendet“).

4.2 Tragende Erwägungen des VGH

  1. Unzureichende Bestimmtheit des Verwendungszwecks in älteren Bewilligungsbescheiden (erste Fallgruppe):
    Der Bewilligungsbescheid ließ nicht hinreichend erkennen, dass maßgeblich eine saldierende Dreimonats-Liquiditätsengpassrechnung (Einnahmen vs. Ausgaben) sein sollte. Ein bloßer Verweis auf „Umsatzeinbußen“ genügte nicht, um später eine strengere Rückrechnung zu verlangen. → Widerrufsvoraussetzungen nicht erfüllt, Rückforderungen rechtswidrig.

  2. Neue Bescheidfassung (zweite Fallgruppe):
    Wo der Liquiditätsengpass und seine Berechnungsmethode klar bestimmt waren, konnte die Rückforderung rechtmäßig sein (Beispiel: Fahrschule).

  3. Nachträgliche Unterlagen zulässig:
    Betroffene dürfen auch im gerichtlichen Verfahren Unterlagen nachreichen, die die zweckgemäße Verwendung belegen; die Behörde darf solche Beweismittel nicht pauschal ausschließen (Erfolg Winzerfall).

4.3 Übertragbarkeit auf Schleswig-Holstein / IB.SH

  • Bestimmtheitserfordernis ist identisch (LVwVfG BW ≈ LVwVfG SH): Rückforderung wegen Zweckverfehlung setzt einen klar bestimmten Zweck im Bewilligungsbescheid voraus (Definition, Zeitraum, Methode).

  • Portallogiken, FAQ, „Berechnungshilfen“ ersetzen nicht die Bestimmtheit des Bescheids.

  • Nachträgliche Einengung (Behördenpraxis verschärft die Kriterien in der Rückschau) ist unzulässig.

  • Nachreichung von Belegen ist zu berücksichtigen; schematische Ablehnung ist rechtsfehlerhaft.

Zusatz in SH-Konstellationen: Selbst vor der Bestimmtheits-/Billigkeitsprüfung steht die Beleihungsfrage. Wenn die IB.SH keinen tragenden Beleihungs-/Beauftragungsakt vorlegt, scheitert die hoheitliche Rückforderung bereits an der Zuständigkeit. Sind Rücknahmen/Widerrufe trotzdem formell als Verwaltungsakte ergangen, drohen Rechtsweg- und Wirksamkeitsprobleme.


5. Folgen für laufende und künftige Verfahren

5.1 Für Betroffene (Zuwendungsempfänger)

  • Beweisstrategie:

    • Bewilligungsbescheid auf Verwendungszweck/Bestimmtheit prüfen.

    • Zeitliche Fristen: positive Kenntnis der Behörde vs. Erlassdatum (Jahresfrist § 48 Abs. 4 LVwVfG SH).

    • Billigkeit konkret darlegen (Alter, Krankheit, Einkommenslage, Existenzsicherung).

    • Unterlagen nachreichen (Liquiditätsengpass-Belege) – auch im Prozess.

  • Prozessstrategie:

    • Rüge fehlender Beleihung/Zuständigkeit (Art. 33 Abs. 4 GG, § 8 IBG SH).

    • Hilfsweise: Bestimmtheits- und Billigkeitsmängel, Fristablauf.

    • Beweisanträge: Vorlage Beleihungs-/Beauftragungsakte, Billigkeitsvermerke, Eingangsvermerke Endabrechnung.

5.2 Für IB.SH / Land SH (Compliance)

  • Transparenz: Beleihungs-/Beauftragungsakte offenlegen.

  • Bescheidgestaltung: Verwendungszweck klar und nachprüfbar definieren; Ermessen dokumentieren.

  • Billigkeitsleitlinien: Härtefälle explizit regeln, Individualabwägung dokumentieren.

  • Fristenkontrolle: § 48 Abs. 4 strikt überwachen.

 

Ergebnis

Die fehlende oder nicht hinreichend nachgewiesene Beleihung der IB.SH ist das zentrale Strukturproblem der hoheitlichen Rückforderungspraxis in Corona-Hilfsprogrammen. Selbst wenn man eine Beleihung unterstellt, scheitern zahlreiche Rücknahmen/Widerrufe an Ausschlussfristen, Unbestimmtheit und unterlassener Billigkeitsprüfung.
Die VGH-BW-Urteile vom 8.10.2025 bestätigen obergerichtlich: Unklare Bescheide und rückwirkend verschärfte Kriterien tragen keine Rückforderung. Für Schleswig-Holstein gilt dies erst recht – hier tritt die Beleihungsfrage hinzu. Betroffene sollten Verfahren offensiv mit Beleihungs-, Frist-, Bestimmtheits- und Billigkeitsargumenten führen; die Verwaltung hat ihre Praxis an Rechtsstaatlichkeit und Bestimmtheit auszurichten.

Ein Dankeschön an Herrn Jörg D. Sträussler, der das Thema der Beleihung im Zusammenhang mit der IB.SH an uns herangetragen hat.

 

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