Triage-Regelungen des Infektionsschutzgesetzes sind verfassungswidrig
BVerfG kippt Triage-Gesetz des Bundes – Entscheidung zur Kompetenzordnung und ärztlichen Freiheit
1. Politischer und rechtlicher Hintergrund
Nach der Corona-Pandemie sah sich der Bundesgesetzgeber 2022 unter erheblichem Druck, auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Dezember 2021 (1 BvR 1541/20 – „Triage I“) zu reagieren. Damals hatte das Gericht den Gesetzgeber verpflichtet, Vorkehrungen gegen Diskriminierungen von Menschen mit Behinderungen bei der Zuteilung knapper Intensivkapazitäten zu treffen.
Im Ergebnis entstand § 5c IfSG – eine bundesweite Regelung zur sogenannten Triage, also zur Entscheidung über die Verteilung überlebenswichtiger Intensivmedizin in einer Knappheitssituation. Das Gesetz legte materiell das Priorisierungskriterium der „aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit“ fest, verbot die Ex-post-Triage (also den Abbruch laufender Behandlungen zugunsten anderer Patienten) und verpflichtete Ärztinnen und Ärzte zu kollegialen, dokumentierten Entscheidungsverfahren.
Die politische Intention war, die Gefahr behinderungsbedingter Benachteiligungen auszuschließen und zugleich Rechtssicherheit für die Ärzteschaft zu schaffen. Gleichwohl stieß die Regelung in der Fachwelt auf heftige Kritik – insbesondere aus der Intensivmedizin, die eine Überregulierung ärztlicher Entscheidungen und ein ethisch kaum handhabbares Verbot der Ex-post-Triage rügte. Ärzteverbände wie DIVI, Marburger Bund und Pflegerat forderten eine Rücknahme oder grundlegende Überarbeitung.
2. Verfassungsbeschwerden und Entscheidung vom 23. September 2025
Zwei Gruppen von Intensiv- und Notfallmedizinern erhoben Verfassungsbeschwerde (1 BvR 2284/23 und 1 BvR 2285/23). Sie sahen sich in ihrer Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) verletzt und bezweifelten vor allem die Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Nach ihrer Auffassung betrifft die Regelung nicht die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten, sondern das ärztliche Berufsrecht – ein klassischer Länderbereich.
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts gab den Ärzten Recht und erklärte § 5c IfSG mit Beschluss vom 23. September 2025 (1 BvR 2284/23 u. 1 BvR 2285/23) für nichtig.
3. Kernaussagen des Beschlusses
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Berufsfreiheit der Ärzte (Art. 12 Abs. 1 GG):
Die Vorschrift greift unmittelbar in die Therapiefreiheit ein, da sie das „Ob“ und „Wie“ einer Heilbehandlung regelt. Ärztliche Entscheidungen dürfen nicht durch starre gesetzliche Kriterien ersetzt werden. -
Keine Gesetzgebungskompetenz des Bundes:
Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG („Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten“) trägt nur Regelungen zur Vorbeugung oder Bekämpfung solcher Krankheiten – nicht aber ein Pandemiefolgenrecht. § 5c IfSG greift erst nach Versagen des Infektionsschutzes ein.
Auch Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG („öffentliche Fürsorge“) begründet keine allgemeine Gesundheitskompetenz des Bundes. Damit blieb die Gesetzgebung den Ländern vorbehalten. -
Art. 12 Abs. 1 GG schützt die Therapiefreiheit umfassend:
Ärztinnen und Ärzte haben das Recht, nach eigenem fachlichen Ermessen über die Behandlung zu entscheiden. Eine zentrale staatliche Regelung, die diese Entscheidung in einer Triage-Situation ersetzt, ist verfassungswidrig. -
Folge:
§ 5c IfSG ist nichtig. Ärztliche Entscheidungen im Triage-Fall richten sich wieder ausschließlich nach medizinisch-ethischen Standards, Berufsrecht und den Grundsätzen ärztlicher Verantwortung.
4. Bedeutung und politische Folgen
Mit dem sogenannten „Triage II“-Beschluss setzt das Bundesverfassungsgericht ein starkes Signal zugunsten der föderalen Kompetenzordnung und der ärztlichen Eigenverantwortung. Der Bund darf künftig keine umfassenden „Pandemiefolgenrechte“ schaffen, die über die unmittelbare Infektionsbekämpfung hinausreichen.
Politisch trifft die Entscheidung insbesondere das Bundesministerium für Gesundheit, das nach 2022 bewusst auf eine bundeseinheitliche Regelung gedrängt hatte, um die Kritik an der Schutzpflichtverletzung aus Triage I zu entkräften. Das Gericht stellt nun klar, dass Diskriminierungsschutz zwar erforderlich bleibt, dessen Ausgestaltung aber in die Zuständigkeit der Länder fällt.
Infektionsschutzgesetz – IfSG
§ 5c Verfahren bei aufgrund einer übertragbaren Krankheit nicht ausreichend vorhandenen überlebenswichtigen intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten
(1) Niemand darf bei einer ärztlichen Entscheidung über die Zuteilung aufgrund einer übertragbaren Krankheit nicht ausreichend vorhandener überlebenswichtiger intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten (Zuteilungsentscheidung) benachteiligt werden, insbesondere nicht wegen einer Behinderung, des Grades der Gebrechlichkeit, des Alters, der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung. Überlebenswichtige intensivmedizinische Behandlungskapazitäten sind im Sinne des Satzes 1 in einem Krankenhaus nicht ausreichend vorhanden, wenn
- 1. der überlebenswichtige intensivmedizinische Behandlungsbedarf der Patientinnen und Patienten des Krankenhauses mit den dort vorhandenen überlebenswichtigen intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten nicht gedeckt werden kann und
- 2. eine anderweitige intensivmedizinische Behandlung der betroffenen Patientinnen und Patienten nicht möglich ist, insbesondere, weil eine Verlegung nicht in Betracht kommt
- a) aus gesundheitlichen Gründen oder
- b) da die regionalen und überregionalen intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten nach den dem Krankenhaus vorliegenden Erkenntnissen ausgeschöpft sind.
(2) Eine Zuteilungsentscheidung darf nur aufgrund der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit der betroffenen Patientinnen und Patienten getroffen werden. Komorbiditäten dürfen bei der Beurteilung der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit nur berücksichtigt werden, soweit sie aufgrund ihrer Schwere oder Kombination die auf die aktuelle Krankheit bezogene kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit erheblich verringern. Kriterien, die sich auf die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit nicht auswirken, wie insbesondere eine Behinderung, das Alter, die verbleibende mittel- oder langfristige Lebenserwartung, der Grad der Gebrechlichkeit und die Lebensqualität, dürfen bei der Beurteilung der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit nicht berücksichtigt werden. Bereits zugeteilte überlebenswichtige intensivmedizinische Behandlungskapazitäten sind von der Zuteilungsentscheidung ausgenommen.(3) Die Zuteilungsentscheidung ist einvernehmlich von zwei Ärztinnen oder Ärzten zu treffen, dieBesteht kein Einvernehmen, sind die von der Zuteilungsentscheidung betroffenen Patientinnen und Patienten von einer weiteren gleich qualifizierten Ärztin oder einem weiteren gleich qualifizierten Arzt zu begutachten und ist die Zuteilungsentscheidung mehrheitlich zu treffen. Von den an der Zuteilungsentscheidung beteiligten Ärztinnen und Ärzten darf nur eine Ärztin oder ein Arzt in die unmittelbare Behandlung der von der Zuteilungsentscheidung betroffenen Patientinnen oder Patienten eingebunden sein. Ist eine Patientin oder ein Patient mit einer Behinderung oder einer Komorbidität von der Zuteilungsentscheidung betroffen, muss die Einschätzung einer hinzuzuziehenden Person berücksichtigt werden, durch deren Fachexpertise den besonderen Belangen dieser Patientin oder dieses Patienten Rechnung getragen werden kann. Die Begutachtung der von der Zuteilungsentscheidung betroffenen Patientinnen und Patienten, die Mitwirkung an der Zuteilungsentscheidung sowie die Hinzuziehung nach Satz 4 kann in Form einer telemedizinischen Konsultation erfolgen.
- 1. Fachärztinnen oder Fachärzte sind,
- 2. im Bereich Intensivmedizin praktizieren,
- 3. über mehrjährige Erfahrung im Bereich Intensivmedizin verfügen und
- 4. die von der Zuteilungsentscheidung betroffenen Patientinnen und Patienten unabhängig voneinander begutachtet haben.
(4) Die oder der im Zeitpunkt der Zuteilungsentscheidung für die Behandlung der betroffenen Patientinnen und Patienten verantwortliche Ärztin oder Arzt hat Folgendes zu dokumentieren:Die §§ 630f und 630g des Bürgerlichen Gesetzbuchs finden entsprechende Anwendung.
- 1. die der Zuteilungsentscheidung zugrunde gelegten Umstände sowie
- 2. welche Personen an der Zuteilungsentscheidung mitgewirkt haben und hinzugezogen wurden und wie sie abgestimmt oder Stellung genommen haben.
(5) Krankenhäuser mit intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten sind verpflichtet, in einer Verfahrensanweisung mindestens Folgendes festzulegen:Sie haben die Einhaltung der Verfahrensanweisung sicherzustellen und müssen die Verfahrensanweisungen mindestens einmal im Jahr auf Weiterentwicklungsbedarf überprüfen und anpassen.
- 1. ein Verfahren zur Benennung der Ärztinnen und Ärzte, die für die Mitwirkung an der Zuteilungsentscheidung zuständig sind, und
- 2. die organisatorische Umsetzung der Entscheidungsabläufe nach Absatz 3.
(6) Krankenhäuser sind verpflichtet, eine Zuteilungsentscheidung unverzüglich der für die Krankenhausplanung zuständigen Landesbehörde anzuzeigen und ihr mitzuteilen, weshalb im Zeitpunkt der Zuteilungsentscheidung überlebenswichtige intensivmedizinische Behandlungskapazitäten nicht ausreichend vorhanden waren, um die für die Krankenhausplanung zuständige Landesbehörde in die Lage zu versetzen, im Rahmen ihrer Zuständigkeit tätig zu werden.(7) Das Bundesministerium für Gesundheit beauftragt innerhalb von sechs Monaten, nachdem erstmals einer für die Krankenhausplanung zuständigen Landesbehörde eine Zuteilungsentscheidung angezeigt wurde, spätestens jedoch bis zum 31. Dezember 2025, eine externe Evaluation dieser Vorschrift. Gegenstand der Evaluation sind insbesondereDie Evaluation wird interdisziplinär insbesondere auf Grundlage rechtlicher, medizinischer und ethischer Erkenntnisse durch unabhängige Sachverständige durchgeführt, die jeweils zur Hälfte von dem Bundesministerium für Gesundheit und dem Deutschen Bundestag benannt werden. Die Sachverständigen haben bundesweite Verbände, Fachkreise und Selbstvertretungsorganisationen, deren Belange von der Vorschrift besonders berührt sind, angemessen zu beteiligen. Das Bundesministerium für Gesundheit übermittelt dem Deutschen Bundestag spätestens ein Jahr nach der Beauftragung das Ergebnis der Evaluation sowie eine Stellungnahme des Bundesministeriums für Gesundheit zu diesem Ergebnis.
- 1. die Erreichung der Ziele, Vorkehrungen zum Schutz vor Diskriminierung zu schaffen und Rechtssicherheit für die handelnden Ärztinnen und Ärzte zu gewährleisten, und
- 2. die Auswirkungen der Vorschrift und der nach Absatz 5 Satz 1 zu erstellenden Verfahrensanweisungen auf die medizinische Praxis unter Berücksichtigung der praktischen Umsetzbarkeit.
Der Eingriff in die ärztliche Berufsfreiheit war verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt, weil es bereits an der formellen Verfassungsmäßigkeit fehlte: Der Bund besaß keine Gesetzgebungskompetenz für § 5c Abs. 1–3 IfSG.
Der Kompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG („Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten“) deckt nur Regelungen ab, die auf Vorbeugung oder Eindämmung einer Krankheit zielen. Ein Pandemiefolgenrecht, das lediglich an die Auswirkungen einer Pandemie anknüpft, fällt nicht darunter.
§ 5c IfSG stellt keine Maßnahme zur Infektionsbekämpfung dar, sondern ordnet lediglich, wie Ärztinnen und Ärzte bei Knappheit intensivmedizinischer Ressourcen Patienten priorisieren müssen. Damit betrifft die Norm das ärztliche Berufsrecht, nicht den Infektionsschutz.
Auch eine Annex- oder Sachzusammenhangskompetenz scheidet aus, da die Triageregelungen weder erforderlich noch untrennbar mit der Pandemiebekämpfung verbunden sind. Folglich lag die Zuständigkeit für derartige Regelungen bei den Ländern, nicht beim Bund.
