Beamtenbesoldung 2022 in Schleswig-Holstein – Verhandlung vor dem VG Schleswig und verfassungsrechtliche Maßstäbe des Art. 33 Abs. 5 GG
Verwaltungsgericht ruft Karlsruhe wegen verfassungswidriger Landesbesoldung 2022 an
Am 11. November 2025 verhandelte die 12. Kammer des Verwaltungsgerichts Schleswig über die Verfassungsmäßigkeit der Beamten- und Richterbesoldung des Landes Schleswig-Holstein für das Jahr 2022. In einem verbundenen Musterverfahren (16 Einzelfälle) wurden Klagen von Landesbeamten der Besoldungsgruppen A 6 bis A 16 sowie von Richtern der Gruppen R 1 bis R 5 gegen das Dienstleistungszentrum Personal und das Land Schleswig-Holstein verhandelt. Rund 300 weitere Verfahren sind beim VG anhängig.
I. Streitgegenstand
Die Kläger begehren die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Beamtenbesoldung 2022 und die Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Sie rügen, das Land habe gegen den in Art. 33 Abs. 5 GG verankerten Grundsatz der amtsangemessenen Alimentation verstoßen.
Kern der verfassungsrechtlichen Diskussion ist die Einhaltung des Abstandsgebots – des geforderten Mindestabstands der Beamtenbesoldung zur Grundsicherung nach SGB II/XII – sowie der fünf vom BVerfG entwickelten Prüfparameter zur Feststellung einer Unteralimentation (BVerfGE 139, 64 = 2 BvL 17/09 u. a.; BVerfGE 146, 71 = 2 BvL 4/18 u. a.).
II. Normative Ausgangslage im Jahr 2022
Das Jahr 2022 war durch drei zentrale Gesetzesänderungen im Besoldungs- und Versorgungsrecht des Landes Schleswig-Holstein geprägt:
| Datum | Gesetzliche Änderung | Kerninhalt |
|---|---|---|
| 1. Mai 2022 | Einführung des § 45a SHBesG (Familienergänzungszuschlag) | Zuschlag zur Sicherung des Mindestabstands zur Grundsicherung; Erhöhung kindbezogener Familienzuschläge um 40 € pro Kind. |
| 1. Juni 2022 | Besoldungs- und Versorgungsanpassungsgesetz 2022 (BVAnpG 2022) | Lineare Anhebung um 0,6 % für Besoldung und Versorgung. |
| 1. Dezember 2022 | 2. Anpassung nach BVAnpG 2022 | Weitere Erhöhung um 2,8 %. |
Mit diesen Änderungen wurde zugleich die bisherige Gleichbehandlungszusage des Landes – der automatische Gleichlauf mit dem TV-L – formell aufgehoben (LT-Drs. 19/3618). Das Land verfolgte fortan ein autonomes Alimentationsmodell, das sich an den verfassungsrechtlichen Vorgaben des BVerfG orientiert.
Die Vorsitzende Richterin stellte hierzu klar, dass sich der Landesgesetzgeber mit diesen Gesetzen an der „roten Linie“ des BVerfG-Urteils vom 5. Mai 2015 (2 BvL 17/09) bewegt habe. Unvorhersehbare Preisentwicklungen – etwa die Energiekrise 2022 – hätten diese Grenze faktisch überschritten und eine evidente Unteralimentation zur Folge gehabt.
III. Staatsrechtliche Grundlagen – Art. 33 Abs. 5 GG und Alimentationsprinzip
Art. 33 Abs. 5 GG enthält die verfassungsrechtliche Institutsgarantie des Berufsbeamtentums.
Zu den hergebrachten Grundsätzen zählen insbesondere:
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das Lebenszeitprinzip,
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das Leistungsprinzip (Art. 33 Abs. 2 GG),
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das Treue- und Fürsorgeprinzip,
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und das Alimentationsprinzip als Gegenleistung für die volle Dienstpflicht.
Das Alimentationsprinzip verpflichtet den Dienstherrn, dem Beamten und seiner Familie einen angemessenen Lebensunterhalt zu gewähren, der seine wirtschaftliche Unabhängigkeit sichert und seine Stellung im Staatsgefüge widerspiegelt.
Es ist nicht disponibel, weder aus Haushalts- noch aus Spargründen, und begründet eine objektivrechtliche Pflicht sowie ein subjektives Anspruchsrecht des Beamten.
Nach ständiger Rechtsprechung (BVerfGE 8, 332; 99, 300; 139, 64; 146, 71) muss die Alimentation:
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den Lebensstandard und die wirtschaftliche Entwicklung abbilden,
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einen Mindestabstand zur Grundsicherung von ca. 15 % wahren,
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und die Abstände zwischen den Besoldungsgruppen sachgerecht erhalten.
Der Gesetzgeber ist dabei doppelt gebunden:
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materiell, durch die Verfassungsinhalte selbst,
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prozedural, durch Begründungs- und Nachweispflichten zur Plausibilisierung der Besoldungstabellen.
IV. Prüfungsmaßstab – Die fünf Parameter des Bundesverfassungsgerichts
Das BVerfG entwickelte in seiner Entscheidung vom 5. Mai 2015 (2 BvL 17/09 u. a.) fünf objektive Vergleichsparameter zur Feststellung einer Unteralimentation:
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Tarifvergleich – Abweichung zur TV-L-Entwicklung (> 5 % über 15 Jahre).
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Nominallohnindex – Teilhabe an allgemeiner Einkommensentwicklung.
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Verbraucherpreisindex (VPI) – Wahrung der Kaufkraft.
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Systeminterner Besoldungsvergleich – Wahrung des Abstandsgebots zwischen Ämtern.
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Bund-Länder-Vergleich – Differenz > 10 % indiziert strukturelle Schwäche.
Bei Verletzung von mindestens drei Parametern besteht die Vermutung einer Unteralimentation. Diese kann nur durch eine Gesamtabwägung widerlegt werden; ein dritter Prüfschritt prüft mögliche verfassungsrechtliche Rechtfertigungen (z. B. Schuldenbremse, Art. 109 Abs. 3 GG).
V. Subsumtion des VG Schleswig
Das Gericht folgte diesen Maßstäben konsequent.
Im Mittelpunkt standen zwei zentrale Parameter:
1. Abstandsgebot zur Grundsicherung
Für eine vierköpfige Beamtenfamilie wurde eine Mindestalimentation von 44.550,18 € netto ermittelt.
Die tatsächliche Nettoalimentation der Besoldungsgruppen A 6 bis A 9 lag teils mehr als 7 % darunter (z. B. A 6: 41.297,89 €).
Ursächlich war insbesondere der Energie- und Heizkostenanstieg 2022, der den gesetzlichen Berechnungsrahmen sprengte.
→ Ergebnis: evidente Unteralimentation.
2. Abstandsgebot zwischen den Besoldungsgruppen
Das Gericht bewertete den Familienergänzungszuschlag (§ 45a SHBesG) als Besoldungsbestandteil, nicht als freiwillige Sozialleistung.
Dessen Einbeziehung führte zu einer Nivellierung der Abstände zwischen den Besoldungsgruppen, womit das Leistungsprinzip (Art. 33 Abs. 2 GG) verletzt wurde.
→ Ergebnis: Verletzung des systeminternen Abstandsgebots.
Damit war die Verfassungswidrigkeit der Besoldung 2022 nach mindestens zwei Parametern evident; auch die übrigen Parameter 1 bis 3 bestätigten diese Einschätzung.
VI. Verfahrensrechtliche Folge – Vorlage an das Bundesverfassungsgericht
Da das Verwaltungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG kein Gesetz verwerfen darf, beschloss die Kammer, das Verfahren dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen.
Der Vorlagebeschluss umfasst die gesamte Beamten- und Richterbesoldung 2022 des Landes Schleswig-Holstein.
Die Entscheidung des BVerfG wird damit bundesweite Signalwirkung entfalten, insbesondere für die familienbezogenen Zuschlagsmodelle und die autonome Landesbesoldung nach Aufhebung der Gleichbehandlungszusage.
VII. Bewertung
Der Fall zeigt, dass sich Landesgesetzgeber im Spannungsfeld zwischen fiskalischer Eigenverantwortung und verfassungsrechtlicher Pflichtbindung bewegen.
Die Besoldung 2022 in Schleswig-Holstein wurde – trotz Anpassungen – an der Grenze des Verfassungsrahmens konstruiert.
Die Verhandlung verdeutlicht, dass Art. 33 Abs. 5 GG kein politischer Gestaltungsrahmen, sondern eine verfassungsrechtlich determinierte Pflichtnorm ist.
Die Entscheidung aus Karlsruhe wird klären, ob die Familienergänzungszuschläge ein zulässiges Instrument oder eine systemwidrige Kompensation sind – und damit den zukünftigen Rahmen für landesautonome Besoldungspolitik in Deutschland setzen.
Fazit:
Das Verwaltungsgericht Schleswig hat mit seiner Vorlage vom 11. November 2025 eine zentrale Frage des Beamtenrechts aufgeworfen:
Wie weit darf der Landesgesetzgeber die ökonomischen Grenzen dehnen, ohne die verfassungsrechtliche Struktur des Berufsbeamtentums zu verletzen?
Art. 33 Abs. 5 GG bleibt dabei die unverrückbare Achse des deutschen Staatsdienstrechts.
Presseerklärung des VG Schleswig vom 11. November 2025
