Analyse der aktuellen ver.di-Streiks (Müllabfuhr, Flughäfen, Nahverkehr)

Sind die aktuellen Streiks verhältnismäßig und von der Rechtsprechung gedeckt?
Streik an deutschen Flughäfen
Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di führt derzeit Arbeitskämpfe in Bereichen der Daseinsvorsorge – insbesondere bei der Müllabfuhr, an Flughäfen und im öffentlichen Personennahverkehr. Diese Streiks werfen die Frage auf, wo die Grenzen des Streikrechts liegen und ab wann ein rechtmäßiger Streik in eine unzulässige „Erpressung der Gesellschaft“ umschlagen könnte. Das Streikrecht ist in Deutschland zwar durch Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz (GG) geschützt, jedoch „nicht um seiner selbst willen geschützt, sondern nur als Mittel zum Zweck des Abschlusses von Tarifverträgen“ bundestag.de. Im Folgenden werden die rechtlichen Kriterien für die Zulässigkeit von Streiks dargelegt (1), die aktuellen ver.di-Streiks anhand dieser Kriterien analysiert (2), die relevante Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) und Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vorgestellt (3) sowie eine Bewertung der rechtlichen Zulässigkeit und etwaiger Grenzen des Arbeitskampfrechts vorgenommen (4).
1. Kriterien: Wann wird das Streikrecht zur „Erpressung der Gesellschaft“?
Das deutsche Arbeitskampfrecht kennt kein einfachgesetzliches Streikgesetz; die Regeln ergeben sich aus Art. 9 Abs. 3 GG und jahrzehntelanger Rechtsprechung. Grundsätzlich sind Streiks erlaubt, solange sie tariflich regelbare Ziele verfolgen (z.B. Löhne, Arbeitsbedingungen) und keine Friedenspflicht verletzen (d.h. es darf kein gültiger Tarifvertrag bestehen, der den Streitgegenstand abdeckt). Werden diese Grundsätze missachtet, bewegt sich ein Streik außerhalb des rechtmäßigen Arbeitskampfs und kann als rechtswidrig gelten. So hat das BAG klargestellt, dass „ein Streik, dessen Kampfziel auch der Durchsetzung einer friedenspflichtverletzenden oder tarifwidrigen Forderung dient, […] rechtswidrig“ ist
Ein zentrales Kriterium ist das der Verhältnismäßigkeit. Bereits in seiner Grundsatzentscheidung von 1971 hat der Große Senat des BAG den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Arbeitskampf verankert bundestag.de. Arbeitskampfmaßnahmen müssen demnach geeignet und erforderlich sein, um ein rechtmäßiges Kampfziel zu erreichen, und das Gemeinwohl (die Allgemeinheit) darf „nicht offensichtlich verletzt“ werden bundestag.de. Insbesondere im Bereich der Daseinsvorsorge forderte das BAG, Regeln aufzustellen, „ob und welche für die Allgemeinheit lebensnotwendigen Betriebe vom Arbeitskampf ausgenommen werden“ bundestag.de. Das bedeutet, dass bei Streiks in lebenswichtigen Versorgungsbereichen (z.B. Gesundheit, grundlegende Infrastruktur) Vorkehrungen getroffen werden müssen, um grundlegende Bedürfnisse der Bevölkerung weiterhin zu decken (Stichwort Notdienste). Ein Streik, der etwa die medizinische Notversorgung der Bevölkerung oder die öffentliche Sicherheit gefährden würde, könnte daher als unverhältnismäßig und rechtswidrig eingestuft werden.
Als „Erpressung der Gesellschaft“ könnte ein Arbeitskampf empfunden werden, wenn eine Gewerkschaft durch maximale Lahmlegung wichtiger öffentlicher Funktionen Druck ausübt, der primär unbeteiligte Dritte trifft, ohne dass dies noch als legitimes Kampfmittel im tariflichen Machtgleichgewicht betrachtet werden kann. Die Rechtsprechung spricht hier eher von unzulässiger Beeinträchtigung der Allgemeinheit. Ein Beispiel ist der Fluglotsenstreik der 1970er Jahre: Der Bundesgerichtshof (BGH) stellte 1978 fest, dass die Aktionen der Fluglotsen „ein ungewöhnliches Maß von Nachteilen und Belastungen für Unbeteiligte“ zur Folge hatten und außer Verhältnis zum Ziel standen bundestag.de. Dieses Szenario – ein unverhältnismäßig starker Schaden für Dritte – markiert die Grenze, an der ein Streik vom geschützten Arbeitskampf zur rechtswidrigen Nötigung werden kann. Grundsätzlich gilt jedoch, dass die mit einem rechtmäßigen Streik einhergehenden Beeinträchtigungen der Allgemeinheit gesellschaftlich hinzunehmen sind. Die Arbeitskampffreiheit wird erst dann eingeschränkt, wenn überragende Rechtsgüter Dritter (z.B. Leben, Gesundheit, elementare öffentliche Ordnung) ernsthaft gefährdet werden bundestag.de.
Zusammengefasst lassen sich folgende Kriterien benennen, wann ein Streik an die Grenzen der Zulässigkeit stößt und als gesellschaftliche „Erpressung“ wahrgenommen werden könnte:
- Tariflicher Bezug: Der Streik muss ein tariflich regelbares Ziel verfolgen. Streiks mit tarifwidrigen Zielen oder während laufender Friedenspflicht sind rechtswidrig
- Ultima Ratio und Verfahren: Zwar fordert die herrschende Ansicht kein vollständiges Scheitern der Verhandlungen als Voraussetzung („verhandlungsbegleitende“ Warnstreiks sind zulässig), jedoch muss der Arbeitskampf dem Grundsatz der Fairness genügen. Überraschende, völlig unvermittelte Streiks ohne vorherige Verhandlungen könnten als unverhältnismäßig gelten – in der Praxis werden aber Warnstreiks als legitime Druckmittel anerkannt.
- Verhältnismäßigkeit der Mittel: Dauer, Umfang und Intensität des Streiks dürfen nicht außer Verhältnis zum legitimen Ziel stehen. Je sensibler der bestreikte Bereich für die Allgemeinheit ist, desto stärker wiegt diese Anforderung. Ein flächendeckender unbefristeter Streik in einem elementaren Bereich (z.B. alle ÖPNV- und Versorgungsbetriebe gleichzeitig auf unbegrenzte Zeit) könnte als übermäßige Belastung der Allgemeinheit gewertet werden.
- Notdienste und minimale Versorgung: In kritischen Bereichen (etwa Gesundheit, Energie, öffentl. Sicherheit) müssen Notdienste eingerichtet werden, um lebenswichtige Funktionen aufrechtzuerhalten. Fehlen solche Vorkehrungen, kann der Streik unverhältnismäßig sein
- Kein direkter Zwang gegen Unbeteiligte: Methoden wie Blockaden oder Besetzungen, die Dritte physisch am Arbeiten oder am Alltag hindern, werden als rechtswidrig bewertet. So ist eine Nötigung im Sinne des Strafgesetzbuches bei Streiks nicht gegeben, solange sich der Streik „in den Grenzen des Arbeitskampfes bewegt“ und nicht sittenwidrig überzogen wird
wissen.jurafuchs.de. Das schließt etwa Gewalt gegen Streikbrecher oder das Geiselnahme-ähnliche Lahmlegen aller gesellschaftlichen Funktionen aus.
Erst wenn diese Grenzen überschritten werden – etwa wenn ein Arbeitskampf ohne tariflichen Bezug, ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl und ohne jedes Maß geführt würde – spricht man im Ergebnis von einer rechtswidrigen Arbeitskampfmaßnahme, die man umgangssprachlich als „Erpressung der Gesellschaft“ bezeichnen könnte. Ansonsten sind selbst harte Streiks vom Grundrecht der Koalitionsfreiheit gedeckt.
2. Analyse der aktuellen ver.di-Streiks anhand der Kriterien
Die von ver.di derzeit organisierten Streiks in Müllabfuhr, Flughäfen und Nahverkehr dienen nach öffentlich bekannten Zielen der Durchsetzung von Tarifforderungen (insb. höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen im öffentlichen Dienst bzw. bei privaten Dienstleistern). Diese Ziele sind klassische tarifliche Regelungsgegenstände. Ein tariflicher Bezug ist somit gegeben, und es handelt sich nicht um politische Streiks. Zudem befinden sich die Aktionen in einem Tarifkonflikt, nachdem die Tarifverträge abgelaufen sind oder gekündigt wurden – die Friedenspflicht ist also beachtet. Es gibt keine Anzeichen, dass ver.di hier unerlaubte oder tarifwidrige Forderungen erhebt; vielmehr bewegen sich die Forderungen im Rahmen von Lohn- und Gehaltsverhandlungen. Somit fehlt es an einem Kriterium, das die Streiks per se rechtswidrig machen würde (etwa ein verbotenes Kampfziel nach BAG-Rechtsprechung
Hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit sind die ver.di-Streiks zwar spürbar und legen teilweise ganze Bereiche lahm (z.B. Ausfall des Nahverkehrs an Streiktagen, geschlossene Kitas, Müllberge in den Straßen, Flugausfälle). Diese Auswirkungen auf die Allgemeinheit sind erheblich, aber zeitlich begrenzt – oft handelt es sich um Warnstreiks oder befristete Aktionen von wenigen Stunden bis wenigen Tagen. Eine flächendeckende dauerhafte Unterbrechung liegt nicht vor. Beispielsweise wurden im Nahverkehr oft nur einzelne Tage oder Stunden gestreikt, und im Flugverkehr betraf der Streik vor allem das Boden- und Sicherheitspersonal an bestimmten Tagen, nicht jedoch etwa die Flugsicherung (die in Deutschland ohnehin nicht streikt) oder alle Flughäfen gleichzeitig auf unbestimmte Zeit. Die Daseinsvorsorge der Bevölkerung wird durch solche punktuellen Streiks beeinträchtigt, aber nicht in einem Maße gefährdet, das Leben oder Gesundheit akut auf’s Spiel setzt. Müllabfuhr-Streiks können bei sehr langer Dauer zu Gesundheitsgefahren führen; in der aktuellen Situation werden sie jedoch meist nach wenigen Tagen durch Tarifkompromisse oder Notmaßnahmen (Nachentsorgung, private Entsorger) aufgefangen.
Ver.di hat in der Regel zudem Notfallvereinbarungen oder zumindest Mindestbesetzungen dort zugelassen, wo unbedingt notwendig. Beispielsweise werden in Kliniken und Pflegeeinrichtungen, soweit ver.di dort streikt, Notdienste etabliert (hier war zwar nicht explizit gefragt, aber ver.di ist auch im Gesundheitssektor aktiv). In Müllabfuhrbetrieben könnten bei hygienischen Notständen Ausnahmen gemacht werden (z.B. Entsorgung von Krankenhausabfall). Im ÖPNV gibt es zwar keine gesetzliche Mindestversorgung, aber bei längeren Streiks werden häufig Ersatzfahrpläne für Schulbusse oder ähnliches vereinbart. Somit bemühen sich die Tarifparteien, den Grundsatz der Gemeinwohlschonung einzuhalten, was der BAG bereits 1971 angemahnt hat bundestag.de. Es liegen keine Berichte vor, dass ver.di z.B. Rettungswege blockiert oder die Versorgung von Kranken verhindert hätte – dies wäre klar unzulässig.
Die Intensität der Streiks entspricht dem üblichen Eskalationsniveau in Tarifrunden des öffentlichen Dienstes. Warnstreiks noch während der laufenden Verhandlungen sind nach heutiger Rechtslage zulässig (frühere Auffassungen, man dürfe erst streiken, wenn Verhandlungen endgültig gescheitert sind, gelten als überholt). Ver.di setzt diese Druckmittel ein, um die Arbeitgeberseite (Kommunen, kommunale Unternehmen, privatisierte Dienstleister) zu Zugeständnissen zu bewegen. Das entspricht dem vom BVerfG anerkannten Prinzip des „freien Spiels der Kräfte“ im Arbeitskampf bundesverfassungsgericht.de. Zwar trifft der Ausfall von Bussen oder Flügen zunächst die Bürger und die Wirtschaft, aber dieser indirekte Druck auf die Arbeitgeber ist vom Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG umfasst. Die Beeinträchtigung Dritter ist hier letztlich Nebeneffekt des Arbeitskampfs und noch keine unzulässige Hauptzielrichtung gegen die Allgemeinheit.
In der öffentlichen Diskussion werden solche umfassenden Streiks in kritischen Bereichen mitunter als „Geiselnahme der Bürger“ kritisiert. Juristisch lässt sich jedoch festhalten, dass die aktuellen ver.di-Streiks innerhalb der rechtlichen Grenzen des Streikrechts bleiben. Sie dienen legitimen Zielen, beachten die Friedenspflicht, und trotz erheblicher Auswirkungen sind sie zeitlich und in der Intensität so begrenzt, dass keine „offensichtliche Verletzung des Gemeinwohls“ bundestag.de vorliegt. Weder hat ein Gericht diese Streiks untersagt, noch haben die Arbeitgeber substanzielle Rechtsmittel wegen Unverhältnismäßigkeit eingelegt – ein Indiz dafür, dass die Aktionen als zulässig gelten. Insgesamt stellen die aktuellen Streiks somit keine „Erpressung der Gesellschaft“ im rechtlichen Sinne, sondern eine vom Grundgesetz gedeckte Arbeitskampfmaßnahme dar.
3. Relevante Rechtsprechung von BAG und BVerfG
Die Grenzen des Arbeitskampfrechts wurden maßgeblich durch Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts entwickelt:
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BAG, Beschluss vom 21. April 1971 (GS) – „Metallarbeiterstreik“/Großer Senat: In diesem Grundsatzbeschluss führte der Große Senat des BAG den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Arbeitskampfrecht ein bundestag.de. Das BAG verlangte, dass Arbeitskämpfe nur geführt werden dürfen, wenn sie zur Erreichung rechtmäßiger Tarifziele geeignet und sachlich erforderlich sind. Wichtig ist die oft zitierte Passage, wonach durch Streiks „das Gemeinwohl nicht offensichtlich verletzt“ werden darf bundestag.de. Das BAG regte an, in Tarifvereinbarungen oder durch die Tarifparteien Regelungen zu treffen, um lebensnotwendige Betriebe von Arbeitskämpfen auszunehmen bundestag.de. Dieser Beschluss war zwar zu einer Aussperrung ergangen, gilt aber gleichermaßen für Streiks als Orientierung.
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BGH, Urteil vom 31. Januar 1978 („Fluglotsenentscheidung“): Der Bundesgerichtshof – damals ausnahmsweise mit einem Arbeitskampffall befasst – beurteilte den illegalen Fluglotsenstreik von 1973. Er bestätigte den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und stellte fest, die Aktion der Fluglotsen habe in keinem vernünftigen Verhältnis zum verfolgten Ziel gestanden bundestag.de. Der Streik führte zu „ungewöhnlichen Nachteilen und Belastungen für Unbeteiligte“, was der BGH scharf kritisierte bundestag.de. Diese Entscheidung betraf Schadenersatzansprüche des Bundes (als Arbeitgeber) gegen die Gewerkschaft; sie illustriert jedoch grundsätzlich, dass exzessive Auswirkungen auf Dritte ein Arbeitskampfmittel als rechtswidrig erscheinen lassen können.
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BVerfG, Beschluss vom 26. Juni 1991 (BVerfGE 84, 212): Das Bundesverfassungsgericht prüfte die vom BAG entwickelten Arbeitskampf-Grundsätze am Maßstab der Koalitionsfreiheit. Es bestätigte ausdrücklich, dass die gerichtliche Rechtsfortbildung zum Arbeitskampfrecht (einschließlich Verhältnismäßigkeit) mit Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar ist bundestag.de. Wichtig ist, dass das BVerfG einerseits betonte, aus der vorbehaltlos gewährleisteten Koalitionsfreiheit könne kein schrankenloses Streikrecht abgeleitet werden; Einschränkungen des Arbeitskampfes seien nicht von vornherein ausgeschlossen bundestag.de. Insbesondere Grundrechte Dritter oder andere Rechtsgüter mit Verfassungsrang können Beschränkungen rechtfertigen bundestag.de. Andererseits warnte das BVerfG davor, eine strikte Verhältnismäßigkeitskontrolle bei Streikmaßnahmen durchzuführen, weil dies faktisch auf eine inhaltliche Kontrolle der Tarifziele hinauslaufen könnte (was die Tarifautonomie beeinträchtigen würde) bundestag.de. Dieser Beschluss des BVerfG unterstreicht das Spannungsverhältnis: Das Streikrecht ist weder absolut, noch darf es durch Gerichte so stark reglementiert werden, dass die Gewerkschaften ihr Druckmittel verlieren.
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BVerfG, Urteil vom 12. Juni 2018 (2 BvR 1738/12 u.a.) – Streikverbot für Beamte: In diesem aktuellen Leiturteil entschied das BVerfG, dass das verbeamtete Personal kein Streikrecht hat. Das „Streikverbot für Beamtinnen und Beamte ist als eigenständiger hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums“ anerkannt und verfassungsgemäß bundesverfassungsgericht.de. Geklagt hatten beamtete Lehrer, die an Gewerkschaftsstreiks teilnehmen wollten – das Gericht stellte klar, dass die besondere Treuepflicht und Funktionsfähigkeit des Beamtentums ein Streikverbot rechtfertigen. Dieses Urteil zeigt eine wichtige Grenze des Streikrechts: Bestimmte Berufsgruppen im Staatsdienst (Beamte) dürfen nicht streiken, um elementare staatliche Funktionen (Schule, Polizei, Justiz, Verwaltung) aufrechtzuerhalten. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass in Bereichen wie der Müllabfuhr oder dem Nahverkehr vor allem Tarifangestellte streiken – Beamte (sofern es in diesen Bereichen überhaupt welche gibt) bleiben im Dienst.
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BAG, Urteil vom 26. Juli 2016 (1 AZR 160/14): Hier ging es um Schadensersatzklagen von Fluggesellschaften gegen die Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF) wegen eines Streiks. Das BAG nutzte den Fall, um erneut klarzustellen, dass Streiks mit tarifwidrigen Zielen rechtswidrig sind
bundesarbeitsgericht.de. Die GdF hatte teils Forderungen gestellt, die gegen eine tarifliche Friedenspflicht verstießen, weshalb das BAG den Streik insoweit als illegal einstufte. Diese Entscheidung betont: Arbeitskampfziele müssen legal und tariflich erlaubt sein – anderenfalls machen sich Gewerkschaften schadensersatzpflichtig. Für ver.di bedeutet das: Solange nur erlaubte Forderungen (z.B. höhere Löhne) gestellt werden, bewegt sich der Streik im Rahmen. Werden jedoch z.B. politische Forderungen oder bereits anderweitig geregelte Ansprüche erkämpft, würde das BAG einschreiten. -
BAG, Urteil vom 20. November 2012 (1 AZR 179/11) – „Dritter Weg“ in Kirchen: Dieses Urteil (auch wenn nicht unmittelbar für ver.di im öffentlichen Dienst relevant) sei erwähnt, weil es eine weitere Grenze des Streikrechts markiert. Das BAG entschied, dass in Einrichtungen der Kirchen, die ein eigenes arbeitsrechtliches Regelungsverfahren (den sog. dritten Weg) haben, Gewerkschaften nicht zu Streiks aufrufen dürfen, sofern die Gewerkschaften in das paritätische Kommissionsverfahren eingebunden sind und die Ergebnisse für die Arbeitgeber bindend sind bundesarbeitsgericht.de. Hier kollidiert das Streikrecht mit dem verfassungsrechtlich geschützten Selbstbestimmungsrecht der Kirchen. Dieser Sonderfall zeigt: Es gibt Sonderregelungen, in denen das Streikrecht eingeschränkt ist (Kirchen, Beamte), die jedoch für die ver.di-Streiks in staatlichen/semi-staatlichen Betrieben nicht einschlägig sind.
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BVerfG, Beschluss vom 9. Juli 2020 (1 BvR 719/19 u.a.): In einem neueren Beschluss hat das BVerfG einen Fall bestätigt, in dem das BAG streikenden Gewerkschaftsmitgliedern erlaubte, auf dem Firmenparkplatz Präsenz zu zeigen, um mit Nicht-Streikenden zu sprechen bundesverfassungsgericht.de. Das Unternehmen hatte sich auf sein Hausrecht berufen, aber die Gerichte wogen die Eigentumsrechte des Arbeitgebers gegen die Koalitionsfreiheit der Gewerkschaft ab und entschieden zugunsten letzterer bundesverfassungsgericht.de. Dieses Urteil unterstreicht den hohen Stellenwert des Streikrechts: Selbst Eigentumsrechte müssen bis zu einem gewissen Grad zurückstehen, damit Gewerkschaften effektiv zum Streik aufrufen und Arbeitswillige ansprechen können. Gleichzeitig zeigte das BVerfG damit, dass arbeitskampfrechtliche Konflikte im Wege der praktischen Konkordanz gelöst werden – ein Ausgleich der betroffenen Grundrechte, ohne eines absolut vorgehen zu lassen bundesverfassungsgericht.de.
Neben diesen Leitentscheidungen sei auch die ständige Rechtsprechung erwähnt, wonach Sympathie- und Unterstützungsstreiks (Solidaritätsstreiks) prinzipiell erlaubt sind, sofern der Hauptstreik rechtmäßig ist und kein Verstoß gegen die Friedenspflicht vorliegt. Zwar gibt es hierzu keine explizite BVerfG-Entscheidung, doch die Arbeitsgerichte erkennen Unterstützungsstreiks als Teil der Koalitionsbetätigung an – wiederum im Rahmen der Verhältnismäßigkeit. Ebenso wurde in der Rechtsprechung anerkannt, dass Warnstreiks (kurze Streiks während laufender Verhandlungen) zulässig sind, obwohl früher teils die Auffassung vertreten wurde, ein Streik dürfe erst nach Scheitern der Verhandlung beginnen. Heutige Entscheidungen stellen klar, dass auch „verhandlungsbegleitende“ Arbeitsniederlegungen rechtmäßig sein können bundestag.de.
Insgesamt zeichnen die Urteile von BAG und BVerfG das Bild eines grundrechtlich gewährleisteten Streikrechts, das jedoch nicht schrankenlos ist. Grenzen ergeben sich insbesondere aus: der Tarifbindung der Ziele (BAG 2016), der Wahrung des Gemeinwohls (BAG 1971, BGH 1978), den Rechten Dritter (BVerfG 1991), speziellen Statusgruppen ohne Streikrecht (BVerfG 2018 zu Beamten; BAG 2012 zu Kirchen) und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in jeder Arbeitskampfmaßnahme.
4. Rechtliche Zulässigkeit der ver.di-Streiks und Grenzen des Arbeitskampfrechts
Bewertung der aktuellen Streiks: Nach deutscher Rechtslage sind die laufenden ver.di-Streiks rechtlich zulässig. Sie erfüllen die Voraussetzungen eines erlaubten Arbeitskampfs. Weder die Arbeitgeberseite noch staatliche Stellen haben bisher Anlass gesehen, diese Streiks gerichtlich untersagen zu lassen – ein starkes Indiz für deren Rechtmäßigkeit. Angesichts der Rechtsprechungslinien bedeutet dies: Die Streiks bewegen sich im Rahmen des durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Arbeitskampfrechts. Insbesondere liegt kein Missbrauch des Streikrechts vor, der als „Erpressung der Gesellschaft“ bewertet werden müsste. Die Unannehmlichkeiten und wirtschaftlichen Einbußen, die der Allgemeinheit durch die Streiks entstehen (z.B. Mobilitätsbeeinträchtigungen, Entsorgungsprobleme, Flugausfälle), sind nach Auffassung der Gerichte und der herrschenden Lehre hinzunehmende Folgen legitimer Tarifauseinandersetzungen
Mögliche Grenzen des Arbeitskampfrechts: Trotz der Zulässigkeit der aktuellen Streiks lohnt ein Blick auf die äußersten Grenzen, die das deutsche Recht zieht. Ein Arbeitskampf würde als rechtswidrig gelten (und könnte z.B. per einstweiliger Verfügung gestoppt oder mit Schadensersatzfolgen belegt werden), wenn die Gewerkschaft gegen die Grundregeln verstößt. Beispiele:
- Verstoß gegen tarifliche Friedenspflicht: Würde ver.di in einem Bereich streiken, obwohl ein gültiger Tarifvertrag noch läuft, könnten die Gerichte sofort eingreifen
- Politischer Streik: Sollte ver.di etwa zum Generalstreik gegen die Regierungspolitik aufrufen, wäre dies nach derzeitiger Rechtsauffassung illegal – eine solche „politische Erpressung“ der Gesellschaft fällt nicht unter Art. 9 Abs. 3 GG.
- Unverhältnismäßige Kampfmittel: Würden Streikende z.B. gewaltsam Infrastruktur blockieren oder essentielle Dienste komplett und dauerhaft stilllegen, könnte dies als verwerfliche Nötigung gewertet werden und den Schutz des Grundrechts verlieren
wissen.jurafuchs.de. Ein Szenario wäre z.B. ein unbefristeter Vollstreik in der Strom- und Wasserversorgung ohne Notdienst – hier würde man die Grenze zur unzulässigen Gefährdung des Gemeinwohls überschreiten.
- Missachtung gerichtlicher Anordnungen: Sollte ein Arbeitsgericht bestimmte Streikmethoden untersagen (etwa wegen Verstoßes gegen Eigentumsrechte, wie im Fall der Parkplatznutzung, wo aber entschieden wurde, dass es zulässig war
bundesverfassungsgericht.de), müssten sich Gewerkschaften daran halten. Ignorieren sie gerichtliche Auflagen, verlören sie den Rechtschutz.
- Streik von Personen ohne Streikrecht: Wenn z.B. Beamte sich an Streiks beteiligen (wie die Lehrer im BVerfG-Fall 2018), ist das disziplinarrechtlich sanktionierbar
bundesverfassungsgericht.de. In den ver.di-Streiks kommt dies kaum vor, da dort weitgehend Tarifangestellte streiken.
Die deutsche Rechtsprechung betont auch die Verantwortung der Tarifparteien, die Grenzen einzuhalten. Das BAG stellte fest, das Streikrecht werde maßgeblich durch die Tarifautonomie selbst begrenzt – man vertraut darauf, dass Gewerkschaften und Arbeitgeber in eigener Verantwortung keinen Arbeitskampf führen, der die Rechtsordnung „ad absurdum“ führen würde bundestag.de. Die Gerichte greifen nur ein, wenn eine klare Überschreitung vorliegt. Bislang gab es in der Bundesrepublik keinen Fall, in dem ein Streik allein wegen übermäßiger Belastung der Allgemeinheit von den höchsten Gerichten als unzulässig qualifiziert wurde – die Konflikte wurden meist politisch oder durch Verhandlungen gelöst, bevor dies nötig war. Allerdings bleibt theoretisch die Möglichkeit bestehen, in extremen Ausnahmefällen das Streikrecht einzuschränken, wenn andere Verfassungsgüter schwerer wiegen bundestag.de.
Ergebnis:
Die ver.di-Streiks in Müllabfuhr, Flughäfen und Nahverkehr sind nach geltendem Recht noch zulässig und bewegen sich innerhalb des vom Grundgesetz geschützten Arbeitskampfrahmens. Eine „Erpressung der Gesellschaft“ im rechtlichen Sinne liegt nicht vor. Die deutsche Rechtsprechung gesteht den Gewerkschaften erhebliche Streikfreiheit zu, solange tarifliche Ziele verfolgt werden und ein Mindestmaß an Rücksicht auf Allgemeininteressen (Verhältnismäßigkeit, Notdienste) gewahrt bleibt bundestag.de. Die Grenzen des Arbeitskampfrechts sind erreicht, wenn Streiks ohne Legitimation oder Maß geführt werden – etwa politisch motivierte Generalstreiks, Verstöße gegen die Friedenspflicht, Gefährdung von Leib und Leben Dritter oder das Streiken durch Beamte.
Quellen (Auswahl relevante Urteile):
- BAG, Beschluss v. 21.04.1971 (GS) – AP Nr. 43 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Arbeitskampf)
- BGH, Urteil v. 31.01.1978 – Fluglotsenstreik (BGHZ 70, 277)
- BVerfG, Beschluss v. 26.06.1991 – BVerfGE 84, 212 („Kurzarbeiter“) (Koalitionsfreiheit, Grenzen durch Drittrechte)
- BAG, Urteil v. 20.11.2012 – 1 AZR 179/11 (Streikverbot in kirchlichen Einrichtungen mit „Drittem Weg“)
- BAG, Urteil v. 26.07.2016 – 1 AZR 160/14 (Flughafen-Vorfeldlotsenstreik, Unzulässigkeit tarifwidriger Streikziele)
- BVerfG, Urteil v. 12.06.2018 – 2 BvR 1738/12 u.a. (Streikverbot für Beamte verfassungsgemäß)
- BVerfG, Beschluss v. 09.07.2020 – 1 BvR 719/19 u.a. (Kein Grundrechtseingriff durch Streikversammlung auf Betriebsgelände – Koalitionsfreiheit vs. Eigentum)