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Entscheidung zum kirchlichen Arbeitsrecht

Arbeitsrecht – Erbrecht - Kommunalrecht

Entscheidung zum kirchlichen Arbeitsrecht

Bundesverfassungsgericht

Beschluss vom 29. September 2025 – 2 BvR 934/19

Kirchenmitgliedschaft als Einstellungsvoraussetzung – Neue Leitlinien des Bundesverfassungsgerichts

Mit seinem Beschluss vom 29. September 2025 (2 BvR 934/19) hat das Bundesverfassungsgericht eine zentrale Weichenstellung im Spannungsfeld zwischen kirchlichem Selbstbestimmungsrecht und staatlichem Diskriminierungsschutz vorgenommen. Es hebt das Urteil des Bundesarbeitsgerichts von 2018 auf und stellt klar: Die Mitgliedschaft in einer Kirche darf nur dann Einstellungsvoraussetzung sein, wenn sie im Hinblick auf die konkrete Tätigkeit objektiv gerechtfertigt und verhältnismäßig ist – zugleich aber bleibt der Kirche ein weiter Raum für eigene Wertungen.


Hintergrund des Verfahrens

Geklagt hatte eine konfessionslose Bewerberin, die sich beim Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung (EWDE) auf eine Referentenstelle im Projekt „Parallelberichterstattung zur UN-Antirassismuskonvention“ beworben hatte. Die Stellenausschreibung verlangte ausdrücklich die Mitgliedschaft in einer evangelischen oder ACK-Kirche. Die Bewerberin wurde nicht eingeladen; die Stelle erhielt ein evangelischer Bewerber. Sie klagte auf Entschädigung nach § 15 AGG wegen Benachteiligung aus religiösen Gründen.

Das Bundesarbeitsgericht sprach ihr 2018 eine Entschädigung zu und legte § 9 AGG teilweise unionsrechtskonform aus, teilweise als unanwendbar – im Ergebnis zugunsten des Diskriminierungsschutzes. Gegen dieses Urteil erhob das EWDE Verfassungsbeschwerde.


Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Das Gericht hob das BAG-Urteil auf. Es betonte, dass die Anwendung von § 9 AGG im Lichte von Art. 4 GG, Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 WRV und der EU-Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/78/EG zu erfolgen habe. Zwar sind die Vorgaben des Unionsrechts verbindlich, doch lassen sie den Mitgliedstaaten Gestaltungsspielräume, die nationale Grundrechtsausprägungen berücksichtigen dürfen.

Kernpunkte der Entscheidung:

  1. Grundrechtspluralität im unionsrechtlichen Rahmen:
    Das Bundesverfassungsgericht prüft nationales Recht auch dann am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, wenn es im Anwendungsbereich des Unionsrechts liegt, soweit dieses nicht vollständig determiniert ist. Die Richtlinie 2000/78/EG belässt den Mitgliedstaaten Raum für eigene Wertungen – gerade bei religiösen Arbeitsverhältnissen.

  2. Stärkung, aber auch Begrenzung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts:
    Art. 4 Abs. 1 und 2 GG i.V.m. Art. 140 GG und Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV umfasst alle Maßnahmen zur Sicherung der religiösen Identität kirchlicher Arbeit. Dazu gehört grundsätzlich auch die Auswahl von Mitarbeitern. Dieses Selbstbestimmungsrecht ist aber gerichtlich überprüfbar, insbesondere, ob ein objektiver Zusammenhang zwischen Kirchenmitgliedschaft und Tätigkeit besteht.

  3. Zweistufige Prüfung verfeinert:

    • Erste Stufe: Die Kirche muss plausibel darlegen, dass zwischen Tätigkeit und kirchlichem Auftrag ein direkter Zusammenhang besteht.

    • Zweite Stufe: Die Anforderung muss im Verhältnis zur konkreten Aufgabe verhältnismäßig sein. Je stärker eine Position das religiöse Profil prägt, desto größer das Gewicht des Selbstbestimmungsrechts. Bei Tätigkeiten ohne religiösen Bezug überwiegt hingegen der Diskriminierungsschutz.

  4. Vereinbarkeit von nationalem und Unionsrecht:
    Es bestehe kein Widerspruch zwischen Grundgesetz, Grundrechtecharta und EMRK. Staatliche Gerichte dürfen nicht das religiöse Ethos theologisch bewerten, wohl aber prüfen, ob dessen Umsetzung rechtsstaatlichen Grenzen genügt.


Bedeutung und Folgen

Der Beschluss setzt klare Leitplanken für das kirchliche Arbeitsrecht:

  • Kirchen dürfen religiöse Loyalitätsanforderungen nur dort erheben, wo sie sachlich und funktional begründet sind.

  • Staatliche Gerichte müssen diese Anforderungen objektiv und verhältnismäßig kontrollieren.

  • Gleichzeitig respektiert das Gericht den eigenständigen Status der Kirchen – ihre religiöse Identität bleibt grundrechtlich geschützt.

Für kirchliche Arbeitgeber bedeutet dies eine Pflicht zur transparenteren Begründung ihrer Einstellungsanforderungen. Für Bewerber stärkt das Urteil die Rechtssicherheit im Diskriminierungsschutz.


Bewertung

Das Urteil markiert eine Balance zwischen Autonomie und Gleichheit. Es stellt klar, dass Religionsgemeinschaften keine Sonderstellung außerhalb des Rechts genießen, wohl aber eigene Wertmaßstäbe im Rahmen des Rechts setzen dürfen. Die Entscheidung führt damit zu einer neuen Rechtssicherheit im Spannungsfeld von Glaubensfreiheit, Arbeitsrecht und europäischer Gleichbehandlung.


 

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