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Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde zur Verdachtsberichterstattung im „Wirecard-Skandal“

Arbeitsrecht – Erbrecht - Kommunalrecht

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde zur Verdachtsberichterstattung im „Wirecard-Skandal“

Bundesverfassungsgericht

Beschluss vom 3. November 2025 – 1 BvR 573/25


Pressefreiheit im Wirecard-Komplex: Das Bundesverfassungsgericht korrigiert das OLG München

Im Ausgangsverfahren war die SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG beklagt worden. Der Kläger war ein früherer, in leitender Stellung tätiger Manager im Wirecard-Konzern und ab 2018 Geschäftsführer einer verbundenen Gesellschaft (…U2…). Diese Firma spielte im letzten Stadium des Wirecard-Skandals – so die Recherchen der Presse – eine zentrale Rolle in den MCA-Finanzstrukturen, über die mutmaßlich hunderte Millionen Euro verschoben worden sein sollen. Der Kläger stand im Fokus staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen, war aber nicht angeklagt.

Der SPIEGEL veröffentlichte dazu zwei Artikel, am 20./21. November 2020 („Der Wireclan“ / „Duo infernale“) und 5./6. Februar 2021 („Inside Wirecard“ / „Die Vorstadtbande“). Beide ordneten den Kläger – teils namentlich, teils bebildert – einem Kreis von Personen zu, die für die staatsanwaltschaftlich verfolgten Wirtschaftsdelikte relevant gewesen sein könnten. Die Artikel waren wertend, kontextualisiert und mit verschiedenen Tatsachen unterlegt, u.a. der Rolle des Klägers bei Darlehensvergaben über seine Ehefrau und bei erheblichen MCA-Transaktionen.
(Vgl. Sachverhalt Seiten 2–6 und 7–8 )

Der Kläger klagte auf Unterlassung sowohl der Wort- als auch der Bildberichterstattung.
Das Landgericht München I gab der Klage statt (§§ 823, 1004 BGB; §§ 22, 23 KUG).
Das OLG München bestätigte die Verurteilung und argumentierte, es fehle bereits an einem „Mindestbestand an Beweistatsachen“ für eine zulässige Verdachtsberichterstattung; die Artikel suggerierten eine mögliche Strafbarkeit des Klägers. Da der Kläger weder prominent sei noch sich geäußert habe, überwiege sein Persönlichkeitsrecht.
(OLG-Bewertung S. 5–6, 12–14 )

Die Nichtzulassungsbeschwerde des SPIEGEL blieb erfolglos.

Der SPIEGEL erhob daraufhin Verfassungsbeschwerde – und bekam in zentralen Punkten Recht.


2. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: Pressefreiheit verletzt

Die 1. Kammer des Ersten Senats entschied am 3. November 2025, dass der Beschluss des OLG München die Beschwerdeführerin in ihren Grundrechten aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 und S. 2 GG verletzt.
(Leitsatz 1–2 S. 1–2 )

Die Kammer hob den OLG-Beschluss auf und verwies die Sache zurück.

Die Entscheidung stützt sich auf drei zentrale Fehler des OLG München:

  1. fehlerhafte Sinnermittlung (insb. beim zweiten Artikel),
  2. Überspannung der Anforderungen an die Verdachtsberichterstattung,
  3. unzureichende Abwägung bei der Bildberichterstattung.

3. Verfassungsrechtliche Maßstäbe – und wie das OLG sie verfehlte

3.1 Fehlerhafte Sinnermittlung

Beim Artikel vom 5./6. Februar 2021 hatte das OLG aus Formulierungen wie „Schlüsselpersonen“ oder „Netzwerk treuer Helfer“ einen strafrechtlichen Verdacht abgeleitet.

Das BVerfG rügte:

  • Die Äußerungen seien wertend, nicht rein faktisch.
  • Der Kontext – Darstellung der Manipulationskraft von (…P1…) und dessen Fähigkeit, Mitarbeiter in sein „Schattenreich“ zu ziehen – wurde ignoriert.
  • Der verständige Durchschnittsleser verstehe „treue Helfer“ nicht zwingend als strafrechtliche Mittäter, sondern als in Vorgänge verstrickte Personen, die ggf. instrumentalisiert wurden.
    (Vgl. S. 16–18 der Entscheidung )

Damit war das OLG von einem unzutreffenden Bedeutungsgehalt ausgegangen – ein klassischer Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 GG.


3.2 Überspannung der Anforderungen an die Verdachtsberichterstattung

Das OLG hatte verlangt, dass der Presse „mehr als ein Anfangsverdacht“ vorliegen müsse und die Beweistatsachen nahezu einem „hinreichenden Tatverdacht“ nahekommen müssten.

Das Bundesverfassungsgericht korrigiert dieses Verständnis grundlegend:

  • Die Presse dürfe nicht auf das Niveau strafprozessualer Verdachtsgrade festgelegt werden.
  • Gerade bei komplexen, verschleierten Wirtschaftsstraftaten sei es verfassungsrechtlich unhaltbar, erst bei Vorliegen eines über den Anfangsverdacht hinausgehenden Verdachts berichten zu dürfen.
  • Entscheidend ist eine Gesamtschau der recherchierten Tatsachen, nicht deren Einordnung nach strafprozessualen Kategorien.
  • Das OLG habe nicht erkennbar abgewogen, sondern pauschal formuliert, alle vom SPIEGEL vorgetragenen Tatsachen begründeten „nur“ einen Anfangsverdacht.
    (S. 14–16 der Entscheidung )

Hinzu kommt:
Der Wirecard-Skandal ist ein Ereignis von herausragendem öffentlichen Interesse mit immensen volkswirtschaftlichen Schäden und systemischer Bedeutung. Dieses öffentliche Interesse muss bereits die Anforderungen an die Sorgfaltspflichten der Presse beeinflussen. Das OLG hatte diesen Maßstab übergangen.
(S. 15–16 )


3.3 Fehlerhafte Abwägung bei der Bildberichterstattung

Das OLG hatte die Bildberichterstattung im Wesentlichen deshalb untersagt, weil auch die Wortberichterstattung unzulässig sei.

Das BVerfG stellte klar:

  1. Das OLG hatte die Unzulässigkeit der Wortberichterstattung selbst fehlerhaft begründet – damit fiel die gesamte Abstützung der Bilduntersagung weg.
  2. Das OLG habe keinerlei verfassungsrechtlich gebotene Abwägung vorgenommen über:
    • Herkunft der Fotos,
    • beruflichen Kontext,
    • neutrale Darstellung,
    • Sozialsphäre statt Privatsphäre,
    • berufliche Funktion des Klägers.
      (S. 18–19 )

Der Kläger sei weder heimlich noch herabwürdigend fotografiert worden. Als Geschäftsführer einer zentralen Gesellschaft im Kern des Wirecard-Komplexes durfte er keine vollständige Abschirmung vor identifizierender Berichterstattung erwarten.


4. Bedeutung der Entscheidung

Diese Entscheidung ist in mehrfacher Hinsicht richtungsweisend:

4.1 Stärkung der Pressefreiheit bei Wirtschafts- und Unternehmenskriminalität

Das BVerfG betont ausdrücklich:

  • Die Presse darf Verdachtslagen öffentlich machen, auch wenn sie strafprozessual erst im Anfangsstadium stehen.
  • Die Anforderungen an Beweistatsachen dürfen nicht so hoch gesetzt werden, dass faktisch eine Berichterstattung über Wirtschaftskriminalität erst nach einer Anklage möglich wäre.

Für die Praxis bedeutet dies:
Medien können auch komplexe, verschachtelte Verdachtslagen darstellen, sofern sie sorgfältig recherchieren und zwischen Tatsachen und Wertungen sauber trennen.

4.2 Präzisierung der Maßstäbe für Sinnermittlung

Gerichte müssen:

  • vollständigen Kontext würdigen,
  • wertende Elemente erkennen,
  • jede Isolierung einzelner Textpassagen vermeiden.

4.3 Klärung der Anforderungen an Bildberichterstattung im beruflichen Kontext

Identifizierende Fotos im Rahmen der Sozialsphäre sind zulässig, wenn:

  • sie nicht heimlich gewonnen wurden,
  • die Wortberichterstattung im Grundsatz zulässig ist,
  • die berufliche Rolle des Betroffenen öffentliche Bedeutung hat.

5. Ergebnis

Das Bundesverfassungsgericht hat den Beschluss des OLG München wegen Verletzung der Presse- und Meinungsfreiheit aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs wurde damit gegenstandslos.
(Entscheidungsformel S. 1–2, 19 )

Die Entscheidung markiert eine deutliche Grenze gegenüber einer übermäßig restriktiven Auslegung der Verdachtsberichterstattung und stellt klar, dass gerade bei Vorgängen von erheblicher wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Tragweite eine funktionierende freie Presse und ein robuster öffentlicher Diskurs unverzichtbar sind.

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