Gefährderansprache an Schule gegenüber Schülerin war rechtswidrig

Verwaltungsgericht Greifswald betont Verhältnismäßigkeit
Mit Urteil vom 1. Juli 2025 hat das Verwaltungsgericht Greifswald in einem bemerkenswerten Fall zur polizeilichen Gefahrenabwehr im schulischen Kontext entschieden. Gegenstand war eine sogenannte „Gefährderansprache“ durch Polizeibeamte gegenüber einer Schülerin, die auf anonyme Hinweise hin staatschutzrelevante Inhalte auf TikTok verbreitet haben soll. Das Gericht stellte fest: Die Maßnahme war rechtswidrig und verletzte die Klägerin in ihren Rechten.
Sachverhalt: Polizeiliche Maßnahme nach anonymer Meldung
Die Klägerin ist Schülerin einer Schule in Ribnitz-Damgarten. Der Schulleiter erhielt eine anonyme E-Mail mit Screenshots, aus denen hervorgehen sollte, dass die Schülerin staatschutzrelevante Inhalte auf TikTok verbreite. Die Schule wandte sich an die Polizei. Die Screenshots wurden durch die eingesetzten Beamten im Vorfeld geprüft und als nicht strafrechtlich relevant eingestuft.
Dennoch begaben sich drei Polizeibeamte gemeinsam mit dem Schulleiter zur Klasse der Klägerin. Diese wurde durch den Schulleiter aus dem Unterricht geholt, die Beamten blieben zunächst im Flur. Anschließend wurde die Schülerin in Begleitung aller Beteiligten ins Sekretariat geführt, wo eine sogenannte Gefährderansprache stattfand.
Klagebegehren: Feststellung der Rechtswidrigkeit
Die Schülerin begehrte gerichtlich die Feststellung, dass die durchgeführte Maßnahme rechtswidrig war. Die Klage richtete sich gegen das Land Mecklenburg-Vorpommern als Rechtsträger der handelnden Polizeibehörde.
Urteil: Rechtswidrige Maßnahme – Unverhältnismäßigkeit der Ausführung
Das Verwaltungsgericht Greifswald folgte der Klage in vollem Umfang. Die Kammer stellte fest, dass die Art und Weise der Durchführung der Gefährderansprache jedenfalls unverhältnismäßig war.
Das Gericht betonte, dass die Maßnahme nicht erforderlich gewesen sei in der Form, wie sie durchgeführt wurde. Insbesondere kritisierte es, dass die Klägerin aus dem laufenden Unterricht geholt wurde und unter Einbeziehung der Polizeibeamten sichtbar für Mitschüler ins Sekretariat geführt wurde.
Die Kammer stellte klar, dass die Polizei und die Schulleitung mildere Mittel hätten wählen müssen, etwa eine vertrauliche Ladung zu einem gesonderten Gespräch außerhalb des Unterrichtsbetriebs oder in einem neutralen Rahmen ohne öffentlichkeitswirksames Auftreten.
Das Vorgehen war deshalb nicht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. dem allgemeinen Verwaltungsrecht, § 2 Abs. 1 SOG M-V sowie den Grundrechten der Klägerin, insbesondere Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG).
Rechtsgrundlagen: Polizeiliche Gefahrenabwehr und schulisches Hausrecht
Gefährderansprachen sind ein polizeiliches Instrument der Gefahrenabwehr und können präventiv eingesetzt werden, ohne dass eine konkrete Straftat bereits vorliegt. Ihre Rechtsgrundlage findet sich regelmäßig im Landes-Sicherheits- und Ordnungsgesetz (hier: § 3, § 5 SOG M-V).
Allerdings muss jede Maßnahme an den allgemeinen rechtsstaatlichen Prinzipien ausgerichtet sein, namentlich dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Die Inanspruchnahme einer Minderjährigen in einem schulischen Umfeld erfordert darüber hinaus eine besonders sensible Abwägung, auch unter Berücksichtigung des Erziehungsauftrags der Schule (Art. 7 GG), des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, des Persönlichkeitsrechts und des Kinder- und Jugendschutzes.
Bewertung und Bedeutung des Urteils
Das Urteil setzt Maßstäbe für den Umgang von Polizei und Schule bei präventiven Maßnahmen gegenüber Schülern. Es betont, dass selbst formal zulässige Maßnahmen im konkreten Vollzug rechtswidrig sein können, wenn sie nicht schonend und verhältnismäßig durchgeführt werden.
Das öffentliche Bloßstellen einer Schülerin durch polizeiliche Maßnahmen im schulischen Raum stellt einen erheblichen Eingriff in ihre Grundrechte dar und kann – wie hier – als rechtswidrig beurteilt werden, selbst wenn keine formelle Rechtsgrundlage verletzt wurde.
Ausblick: Berufung möglich
Gegen das Urteil ist die Zulassung der Berufung durch das Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern möglich. Sollte diese beantragt und zugelassen werden, wird das OVG zu prüfen haben, ob die Maßnahme bei wertender Gesamtschau doch noch als verhältnismäßig hätte gelten können – etwa bei besonders schwerwiegenden Gefahrenlagen oder bei konkreter Wiederholungsgefahr.