Zwischen Recht, Politik und Öffentlichkeit – Die Wahl von Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf und die Bedeutung richterlicher Unabhängigkeit am Bundesverfassungsgericht
Einleitung: Verfassungsgerichtsbarkeit als Fundament des demokratischen Rechtsstaats
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nimmt als „Hüter der Verfassung“ eine Schlüsselfunktion in der Gewaltenteilung der Bundesrepublik Deutschland ein. Es schützt Grundrechte, wahrt die föderale Ordnung und wirkt als Korrektiv gegen mögliche demokratische oder exekutive Entgleisungen. Seine Unabhängigkeit – institutionell, personell und intellektuell – ist dabei Grundbedingung für die Legitimität seiner Entscheidungen. Vor diesem Hintergrund wirft die anstehende Wahl von Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf in das Amt der Vizepräsidentin und damit potentiell auch der Präsidentin des BVerfG nicht nur juristische, sondern auch rechtskulturelle und politische Fragen auf, die nüchtern, sachlich und im Lichte der verfassungsrechtlichen Grundlagen zu würdigen sind.
Die rechtliche Rolle von Präsident und Vizepräsident am Bundesverfassungsgericht
Gemäß § 3 BVerfGG werden der Präsident und der Vizepräsident aus dem Kreis der Richter durch Bundestag bzw. Bundesrat gewählt. Neben der Repräsentationsfunktion kommt beiden eine herausgehobene Steuerungsfunktion zu:
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Präsident/in führt den Vorsitz im Ersten oder Zweiten Senat, bestimmt die Geschäftsverteilung mit und wirkt maßgeblich an der Besetzung der Berichterstattungen mit.
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Gemeinsam mit dem Vizepräsidenten entscheidet er/sie über die personelle Zusammensetzung der wissenschaftlichen Mitarbeiterstäbe, also jener Juristen, die die Vorlageentwürfe ausarbeiten, Gutachten schreiben und juristische Substanz in die Senatsberatungen einbringen.
Somit haben Präsident und Vizepräsident mittelbar erheblichen Einfluss auf die rechtliche Substanz der Entscheidungen, auch wenn alle Richter formell gleichgestellt sind. Über die Wahl der Mitarbeiter, die in der Regel dem rechtswissenschaftlichen Nachwuchs entstammen, werden Auslegungsparadigmen und dogmatische Vorprägungen innerhalb des Gerichts mitbestimmt.
Die Personalie Brosius-Gersdorf – wissenschaftlich anerkannt, politisch umstritten
Prof. Dr. Frauke Brosius‑Gersdorf ist eine anerkannte Verfassungsjuristin mit akademischem Schwerpunkt im Grundrechtsschutz und Sozialstaatsprinzip. Ihr wissenschaftliches Werk zeigt eine klare Linie in Richtung liberaler Grundrechtsentfaltung, einer weiten Auslegung von Selbstbestimmungsrechten (insbesondere bei Reproduktion, Gleichstellung, digitaler Teilhabe) sowie einem modernen Verständnis von Art. 3 GG.
Dennoch ist ihre Kandidatur Gegenstand kontroverser politischer Diskussionen. Kritiker – insbesondere aus konservativen Kreisen – bringen folgende Bedenken vor:
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Fehlende parteipolitische Neutralität: Brosius-Gersdorf war Mitglied regierungsnaher Kommissionen (z. B. zur reproduktiven Selbstbestimmung) und äußerte öffentlich verfassungsrechtliche Bewertungen zu Parteien (AfD-Verbot), was als mangelnde Distanz gewertet wird.
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Ideologisierung der Grundrechte: Der Vorwurf lautet, sie interpretiere Grundrechte nicht aus dem Text und seiner historischen Bedeutung heraus, sondern verfolge eine gesellschaftspolitische Agenda.
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Einseitige Personalpolitik: Die Sorge besteht, dass sie als Vizepräsidentin (und potenzielle Präsidentin) einen wissenschaftlichen Mitarbeiterstab auswählt, der überwiegend einer bestimmten juristisch-politischen Denkschule entstammt.
Diese Einwände sind rechtsstaatlich ernst zu nehmen, bedürfen jedoch einer sachlich-normativen Einordnung.
Verfassungsrechtliche Würdigung der Bedenken
1. Richterliche Unabhängigkeit (Art. 97 GG)
Die Grundnorm des richterlichen Handelns ist die Unabhängigkeit von Weisungen, politischen Interessen und öffentlicher Erwartung. Art. 97 Abs. 1 GG schützt dabei nicht nur die Entscheidung im Einzelfall, sondern auch die personale und strukturelle Autonomie der Rechtsprechung. Weder frühere wissenschaftliche Stellungnahmen noch ethische oder politische Haltungen stehen per se einer Wahl entgegen, solange im Amt Unparteilichkeit gewahrt bleibt.
Die Teilnahme Brosius-Gersdorfs an Kommissionen des Bundestages oder der Bundesärztekammer ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Sie zeugt von einer gewollten Verschränkung von Wissenschaft, Ethik und Recht. Dass Verfassungsrichter vor ihrer Berufung politische oder ethische Haltungen äußern, ist üblich und mit Blick auf frühere Richter wie Papier, Hassemer oder Di Fabio kein Novum.
2. Recht auf politische Meinungsäußerung
Auch Verfassungsrichter haben – bis zur Ernennung – das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung (Art. 5 GG). Selbst eine klare Positionierung, etwa im Kontext des Abtreibungsrechts oder zur AfD, ist nicht mit politischer Agitation gleichzusetzen. Entscheidend ist allein, ob sie nach der Ernennung ihre Entscheidungen allein am Gesetz und am Grundgesetz orientieren.
3. Besetzung wissenschaftlicher Mitarbeiter
Die Möglichkeit, bei der Auswahl wissenschaftlicher Mitarbeiter eigene Präferenzen einfließen zu lassen, ist Teil des pluralistischen Systems des BVerfG. Gerade weil die Richter nach politischer Balance (Bundestag/Bundesrat, CDU/SPD/Grüne/FDP) gewählt werden, spiegelt sich diese Vielfalt auch in den Mitarbeiterstäben wider. Es besteht keine Pflicht zur politisch neutralen „Auskömmlichkeit“, wohl aber zur fachlichen Exzellenz und verfassungsrechtlichen Begründungskraft.
Bedeutung für die verfassungsgerichtliche Entwicklung
Die Wahl von Brosius-Gersdorf könnte, sachlich betrachtet, in folgenden Feldern verfassungsrechtliche Impulse setzen:
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Reproduktive Grundrechte (z. B. Normenkontrolle § 218 StGB)
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Stärkung staatlicher Schutzpflichten im Sozial- und Familienrecht
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Erweiterung des Demokratieverständnisses im Kontext digitaler Öffentlichkeit
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Modernisierung der Gleichstellungsauslegung unter Art. 3 GG
Zugleich ist das BVerfG kein Einzelrichtergericht. Jede Entscheidung erfordert Senatsmehrheiten, sodass selbst paradigmatische Richterpersönlichkeiten wie Grimm, Hassemer oder Papier stets in kollegialer Verantwortung agieren mussten.
Profil & Karriere von Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf
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Geboren am 15. Juni 1971 in Hamburg, Jurastudium in Hamburg, Promotion 1997 zum Dr. iur., LL.M. in Edinburgh 1998.
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Professorin für Öffentliches Recht und Verfassungsrecht in Potsdam seit Wintersemester 2021/22. Leiterin des Instituts mit Schwerpunkten u.a. im Sozial- und Familienrecht.
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Mitarbeiterin vielfältiger Gremien: u.a. im Verfassungsgerichtshof Sachsen und in der Ethikkommission der Bundesärztekammer.
Politische & rechtspolitische Ausrichtung
Reproduktive Selbstbestimmung
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Als stellvertretende Koordinatorin der Kommission „reproduktive Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“ (2023/24) setzte sie sich für die Entkriminalisierung von Abtreibungen in den ersten 12 Schwangerschaftswochen ein. Bewertung: „grundrechtskonform“.
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Ihre Positionen sorgten für Kritik von konservativen Lebensrechts‑Verbänden („Christdemokraten für das Leben“), die CDU/CSU aufforderten, nicht für sie zu stimmen.
Gender-Parität
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Befürworterin gesetzlicher Frauenquoten im Wahlrecht. Sie kritisierte das Thüringer Paritätsgesetz-Verbot aufgrund mangelnder Gleichgewichtspolitik.
Rechtsstaat u. Politik
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Im ZDF-Interview („Markus Lanz“, Juli 2024) befürwortete sie grundsätzlich ein mögliches Verfahren gegen die AfD, „wenn es genug Material gibt“
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Ebenso befürwortete sie Impfpflicht während der Corona-Pandemie, sah ein AfD-Verbotsverfahren positiv und sprach sich für „gendergerechtes“ Grundgesetz aus. Kritiker dabei von rechts als „links-grün-woke“ abgestempelt.
Nominierung & Ablauf für Bundesverfassungsgericht
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SPD schlägt sie als Nachfolgerin von Doris König als Vizepräsidentin des Zweiten Senats zur Wahl im Bundestag am 10. Juli 2025 vor.
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CDU/CSU zeigen Vorbehalte, einige Parlamentarier bezeichnen sie als „lebenskritisch“, „ultralinke Juristin“ und für das Amt ungeeignet.
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Notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag ist unsicher; FDP fehlt, daher Linke als entscheidende Stimmen.
Politische Bedeutung & Einfluss
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Aufstiegspotenzial: Mit Vizepräsidentschaft könnte sie später – ab 2030 – Präsidentin des Gerichts werden, womit sie erste Frau seit Jutta Limbach in dieser Position wäre. lto.de
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Reform-/Progressosignal: Ihre Rolle in liberalen Rechtsdebatten (Abtreibung, Quoten, AfD-Verbotsverfahren, Impfpflicht) signalisiert SPD-geprägte Fortführung progressiver Grundrechtegestaltungen.
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Störpotenzial: Ihre liberal-progressiven Positionen treffen auf Widerstand aus konservativen CDU/CSU-Kreisen, was große mediale Aufmerksamkeit und mögliche politische Verwerfungen erzeugt.

2 Antworten
Irrsinn aus dem teuren Kindergarten!.
Mich kümmert vielmehr, warum ich als Nießbraucher meiner Immobilie keine Förderung einer
Wärmepumpe erhalte.
Soweit der Unsinn aus der preußischen Denkfabrik.
[…] Kritik an ihr laut geworden. Brosius-Gersdorf hat dieser zufolge in der Öffentlichkeit mehrfach ideologische und teilweise linksautoritäre Positionen vertreten. So trat Brosius-Gersdorf öffentlich für eine vollständige Entkriminalisierung des […]