Ist Bürokratieabbau eine Illusion?
Nach Schumpeter war die Verwaltung kein neutrales Vollzugsorgan, sondern ein Akteur mit eigenen Nutzenfunktionen: Erhalt des Apparats, Aufgabenerweiterung, Budgetmaximierung.
Joseph Alois Schumpeter (1883–1950) war ein österreichischer Nationalökonom, Finanzwissenschaftler und einer der einflussreichsten Wirtschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts.
Schumpeter wurde am 8. Februar 1883 in Triesch, Mähren (damals Österreich-Ungarn, heute Třešť in Tschechien), geboren. Er studierte Rechtswissenschaft und Nationalökonomie in Wien, u. a. bei Eugen von Böhm-Bawerk, und habilitierte sich früh mit Arbeiten zur Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung.
Nach Professuren in Czernowitz, Graz und Bonn war Schumpeter 1919 kurzzeitig österreichischer Finanzminister. Diese praktische Erfahrung staatlicher Finanz- und Verwaltungsstrukturen prägte seine spätere, oft staats- und bürokratiekritische Perspektive nachhaltig. In den 1920er-Jahren war er zudem Präsident einer Privatbank, die scheiterte; auch diese Erfahrung floss in seine ökonomischen Analysen ein.
1932 emigrierte Schumpeter in die USA und wurde Professor an der Harvard University, wo er bis zu seinem Tod lehrte. Dort entwickelte er seine bekanntesten Konzepte weiter und prägte Generationen von Ökonomen.
Zentrale Beiträge Schumpeters sind:
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die Theorie der schöpferischen Zerstörung,
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die Rolle des Unternehmers als Träger von Innovation,
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die Analyse des Kapitalismus als dynamisches, instabiles System,
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sowie die These, dass der Kapitalismus an seinem eigenen Erfolg und an der Ausdehnung staatlicher und bürokratischer Strukturen zugrunde gehen könne.
Sein Hauptwerk „Capitalism, Socialism and Democracy“ (1942) gilt als Klassiker der politischen Ökonomie. Schumpeter verstarb am 8. Januar 1950 in Taconic, Connecticut.
Seine Bedeutung liegt weniger in mathematischen Modellen als in der langfristigen, institutionellen Analyse wirtschaftlicher und staatlicher Entwicklungsprozesse, insbesondere des Spannungsverhältnisses zwischen Innovation, Bürokratie und Demokratie.
1. Schumpeters Ausgangsthese: Bürokratie als sich selbst verstärkender Apparat
1.1 Grundannahmen
Schumpeter analysierte Staatswesen primär unter macht- und anreiztheoretischen Gesichtspunkten. Drei seiner zentralen Thesen zur Bürokratie sind einschlägig:
(1) Bürokratien tendieren zum autonomen Wachstum
Nach Schumpeter ist die Verwaltung kein neutrales Vollzugsorgan, sondern ein Akteur mit eigenen Nutzenfunktionen: Erhalt des Apparats, Aufgabenerweiterung, Budgetmaximierung.
Der Bürokratie-Apparat wächst damit unabhängig von der Effizienz staatlicher Aufgaben.
(2) Die Verwaltung schafft neue Aufgaben, um ihre Existenz zu legitimieren
Schumpeter sah die Tendenz, dass Behörden durch zusätzliche Regulierungen, Berichtspflichten und Verfahrensregime den Bedarf nach weiterer Verwaltung erzeugen.
Das bedeutet: Die Verwaltung erzeugt die Notwendigkeit ihrer eigenen Weiterexistenz – ein auto-poietischer Mechanismus.
(3) Demokratische Kontrolle ist schwach ausgeprägt
Schumpeter argumentierte, dass Parlamente strukturell unterlegen seien, weil
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Informationsasymmetrien bestehen,
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politische Kontrolle überwiegend ex post stattfindet,
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der Verwaltungsapparat aufgrund von Expertise-Monopolen weitgehend seine eigenen Prioritäten setzt.
Ergebnis nach Schumpeter: Verwaltung expandiert, weil sie sich inhaltlich und strukturell selbst reproduziert.
2. Analyse der Aussage „Die Verwaltung verwaltet die Verwaltung“
Die Aussage beschreibt einen Zustand, in dem der Verwaltungsapparat mehr Ressourcen auf die Steuerung, Dokumentation, Kontrolle und interne Organisation der Verwaltung selbst verwendet als auf die ursprünglichen Sachaufgaben.
Dieser Effekt tritt ein, wenn Metaverwaltung entsteht: Verwaltung, die Verwaltungstätigkeit erzeugt, prüft oder legitimiert. Beispiele:
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Berichtspflichten über Berichtspflichten (Meta-Controlling)
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Compliance-Regime zur Einhaltung interner Richtlinien
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Qualitätsmanagementsysteme, die primär eigene Dokumentationsanforderungen generieren
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Eskalierender Datenschutz- und Vergaberechtssowie Haushaltsrecht-Apparat
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Interne Prüfbehörden (Rechnungsprüfung, Revision, Controlling) mit steigender Regelungsproduktion
Das führt zu einer systemischen Bürokratisierung: Aufgaben verschieben sich von externen Leistungen zu internen Organisationsakten.
3. Strukturelles Wachstum der Verwaltung in Deutschland
3.1 Quantitatives Wachstum
(1) Personalzuwachs
Seit zwei Jahrzehnten steigt die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst kontinuierlich. Ursachen:
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Altersersatzbedarf
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Ausweitung staatlicher Aufgaben (Digitalisierung, Klima, Energie, Migration, Sicherheit)
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Komplexere EU- und Bundesregulierung
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Zunahme von Quasi-Behörden, Agenturen, AöR und Landesgesellschaften
Besonders stark gewachsen sind:
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Sozialverwaltungen
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Sicherheitsbehörden
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Regulierungseinrichtungen (BAFA, BNetzA etc.)
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Landesbehörden durch EU-Umsetzungsakte
(2) Zunahme der Verwaltungsbereiche
Die Personalanteile in Bereichen wie Dokumentation, Controlling, Evaluation, „Qualitätsmanagement“, Datenschutz, Compliance und Vergabemanagement steigen überproportional.
3.2 Qualitatives Wachstum
(1) Regulierungsdichte
Jährlich mehrere tausend Rechtsänderungen erzeugen ständig neue Verwaltungsaufgaben. Beispiele:
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Energie- und Klimarecht (EEG, BEHG, EnWG-Novellen)
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Sozialrecht (SGB II und XII, Pflegereform)
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Datenschutz (DSGVO-Folgen, BDSG)
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Vergaberecht (GWB-4. Teil, UVgO, VOB/A-Novellen)
Jede zusätzliche Norm zwingt die Verwaltung zu:
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neuen Prüfungen
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internen Vorgaben
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Zusatzkontrollen
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Berichtspflichten
→ Die Verwaltung erzeugt Verwaltung.
(2) Mehrebenen-Verwaltung
Föderalismus, EU-Recht und kommunale Selbstverwaltung erzeugen Rückkopplungsketten:
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EU → Bund → Länder → Kommunen
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Kommunale Umsetzung mit Landesaufsicht
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Berichtspflichten zurück an EU und Bund
Dadurch entstehen parallele Verwaltungsstrukturen, die dieselben Vorgänge mehrfach dokumentieren.
(3) Digitalisierung als Treiber statt Reduktor
Digitalisierung sollte Verwaltung verkleinern. Die Realität:
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parallele analoge und digitale Verfahren,
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wachsende IT-Abteilungen,
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zusätzliche Datenschutz- und Sicherheitsbürokratie,
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neue Berichtspflichten durch IT-Sicherheitsgesetze.
Der Effekt: Digitalisierung hat die Verwaltung vergrößert statt reduziert.
4. Mechanismen der permanenten Selbstvergrößerung
Die Verwaltung wächst nicht nur, sie verstetigt und legitimiert ihr Wachstum durch fünf systemische Mechanismen:
(1) Komplexitätsargument
Je komplexer das Recht, desto größer der Personalbedarf zur Anwendung des Rechts.
Die Verwaltung ist zugleich Anwender und Profiteur dieser Komplexität.
(2) Risikovermeidungslogik
Die Verwaltung minimiert Rechtsrisiken durch:
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mehr Dokumentation,
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mehr Prüfschritte,
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mehr Abstimmungen.
Dies erzeugt weitere Verfahrensebene – ein endogener Wachstumsfaktor.
(3) Kontrollspiralen
Politik reagiert auf Einzelfälle (z.B. Kostenüberschreitungen, Fehlentscheidungen) mit zusätzlichen Kontrollregimen, die dauerhafte Strukturen schaffen:
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Prüfbehörden
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Compliance-Vorgaben
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Mehrstufige Freigabeprozesse
Kontrolle erzeugt Verwaltung; Verwaltung erzeugt Kontrollbedarf.
(4) Haushaltsrechtliche Pfadabhängigkeit
Einmal eingerichtete Stellen werden nur selten abgebaut, da:
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Haushalter Personalkürzungen nicht risikolos durchsetzen können
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Aufgaben fortgeschrieben werden
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Rückbau politisch unattraktiv ist
(5) Kooperations- und Verbundstrukturen
Zusätzliche Landesgesellschaften, AöR, Zweckverbände, Agenturen, Koordinierungsstellen und Stabsstellen schaffen ein „Verwaltungsökosystem“, das überwiegend intern verwaltet wird.
5. Bewertung
Die Aussage „Die Verwaltung verwaltet die Verwaltung“ beschreibt einen realen, strukturellen Zustand der deutschen Verwaltungsorganisation.
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Die Sachverwaltung (Schulen, Sicherheit, Infrastruktur, Energie, Migration) wird zunehmend überlagert durch Meta-Verwaltung (Regelinterpretation, Dokumentation, Compliance, Berichtswesen).
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Schumpeters Analyse erklärt diesen Zustand als autopoietisches Wachstum eines Akteurs mit eigenen Zielsetzungen, der nur eingeschränkt durch demokratische oder fiskalische Grenzen gesteuert wird.
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Quantitativ wächst der öffentliche Dienst, qualitativ wächst insbesondere der interne Verwaltungs- und Kontrollapparat.
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Reformen scheitern regelmäßig an denselben Mechanismen, die sie eigentlich reduzieren sollten.
Die deutsche Verwaltung zeigt ein strukturelles, schumpeterianisches Wachstumsmodell:
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Zunahme der Personal- und Organisationsdichte,
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Vermehrung von Prüf- und Kontrollstrukturen,
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Ausweitung von Dokumentations- und Berichtspflichten,
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Verstärkte Rückkopplung durch EU- und föderale Ebenen,
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Digitalisierung als Arbeitsvermehrer statt als Entlastungsfaktor.
Damit betreibt ein erheblicher Teil der Verwaltungstätigkeit nicht mehr klassische Daseinsvorsorge oder Vollzugsaufgaben, sondern die Verwaltung der eigenen Verfahren.
