Schutz vor Einschüchterungsklagen
SLAPP =„Strategic Lawsuits Against Public Participation“
Gerichte sollen bessere Möglichkeiten erhalten, mit sogenannten Einschüchterungsklagen umzugehen.
Der Regierungsentwurf setzt die EU-Anti-SLAPP-Richtlinie 2024/1069 in deutsches Recht um und schafft im Kern ein eigenes „Schutzregime“ im Zivil- und Arbeitsgerichtsverfahren für missbräuchliche Klagen gegen Personen, die sich am öffentlichen Meinungsbildungsprozess beteiligen.
Zweck und Reichweite des Gesetzes
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Zielrichtung
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Bekämpft werden sogenannte SLAPP-Verfahren (Strategic Lawsuits Against Public Participation): Zivil- bzw. Handelssachen, deren Hauptzweck nicht die Durchsetzung eines legitimen Anspruchs, sondern Einschüchterung, finanzielles „Zermürben“ oder Sanktionierung des Beklagten wegen seiner öffentlichen Meinungsäußerung bzw. Beteiligung am öffentlichen Diskurs ist.
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Geschützt werden insbesondere Journalisten, Medien, NGOs, Aktivisten, Whistleblower und sonstige Personen/Organisationen, die sich in der Öffentlichkeit äußern.
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Sachlicher Anwendungsbereich
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Nur Zivil- und Handelssachen mit grenzüberschreitendem Bezug im unionsrechtlichen Sinne (Art. 2, 5 der Richtlinie).
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Ausgenommen sind:
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rein innerstaatliche Fälle, bei denen beide Parteien ihren Wohnsitz in Deutschland haben und sämtliche relevanten Umstände im Inland liegen,
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Staats- und Amtshaftungsansprüche (acta iure imperii), also Haftung für hoheitliches Handeln.
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Kein materiell-rechtliches Ehrenschutzgesetz
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Es werden keine materiell-rechtlichen Ansprüche neu geschaffen oder eingeschränkt (z. B. Presse-, Äußerungs- oder Persönlichkeitsrecht).
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Es handelt sich ausschließlich um prozessuale Sonderregeln, die missbräuchliche Nutzung der Gerichte sanktionieren und abwehren sollen.
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Systematik des Entwurfs
Der Entwurf ändert drei Gesetze:
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Zivilprozessordnung (ZPO)
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Einführung eines neuen besonderen Gerichtsstands in § 23a ZPO.
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Ergänzung des Buches 6 („Weitere besondere Verfahren“) um einen neuen Abschnitt 3 (§§ 615–619 ZPO) mit eigenem SLAPP-Regime.
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Redaktionelle Korrektur in § 26 ZPO.
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Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG)
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Neuer § 13b ArbGG: Anwendung der ZPO-SLAPP-Regeln auf arbeitsgerichtliche Verfahren sowie spezielle Kostenregelung.
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Gerichtskostengesetz (GKG)
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Neue besondere Gebührentatbestände (Nr. 1903 und 8701 KV GKG) für zusätzliche Gerichtsgebühren gegenüber SLAPP-Klägern.
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Umbenennung und Anpassung des Kostenvorzeichnisses (Teil 8, Hauptabschnitt 7: „Besondere Gebühren“).
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Neuer besonderer Gerichtsstand: § 23a ZPO
3.1 Inhalt
§ 23a ZPO begründet einen besonderen Gerichtsstand für vermögensrechtliche Ansprüche infolge missbräuchlicher Verfahren außerhalb der EU:
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Klagen wegen Schadensersatz o. Ä. infolge eines außerhalb der Europäischen Union geführten, missbräuchlichen Gerichtsverfahrens gegen den Kläger (typischerweise: SLAPP-Verfahren in Drittstaaten) können vor dem Gericht am allgemeinen Gerichtsstand des Klägers erhoben werden.
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Es geht um Fälle, in denen z. B. ein Journalist in einem Drittstaat mit einer Einschüchterungsklage überzogen wurde und in Deutschland wegen der hierdurch entstandenen Schäden (Kosten, Reputationsschäden, sonstige Vermögenseinbußen) klagen möchte.
3.2 Einschränkungen
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Der Gerichtsstand gilt nicht, wenn der Beklagte seinen Sitz/Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat oder einem Lugano-Staat hat (Vorrang der Brüssel-Ia-VO bzw. des Lugano-Übereinkommens).
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Eine zusätzliche Begrenzung auf das Vorhandensein von Vermögen im Inland (wie bei § 23 ZPO) wird gerade nicht eingeführt. Der Gesetzgeber folgt hier unmittelbar Art. 17 der Richtlinie.
Neuer Abschnitt 3 im Buch 6 ZPO (§§ 615–619 ZPO)
Der Abschnitt trägt die Überschrift:
„Missbräuchliche Verfahren gegen Personen aufgrund ihrer Beteiligung am öffentlichen Meinungsbildungsprozess“.
4.1 § 615 ZPO – Anwendungsbereich
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Tatbestandsvoraussetzungen
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Es muss ein Rechtsstreit vorliegen,
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dessen Hauptzweck darin besteht, die Beteiligung des Beklagten am öffentlichen Meinungsbildungsprozess zu verhindern, einzuschränken oder zu sanktionieren,
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und der „unter Berücksichtigung aller Umstände“ missbräuchlich geführt wird.
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Kriterienkatalog für Missbräuchlichkeit (§ 615 Abs. 2 ZPO)
Das Gericht hat insbesondere zu berücksichtigen, ob:-
offensichtlich unbegründete Ansprüche verfolgt werden;
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ein überhöhter Streitwert zugrunde gelegt wird;
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der Kläger eine überlegene Stellung (finanziell, politisch, strukturell) gegenüber dem Beklagten ausnutzt;
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der Kläger oder ein verbundenes Unternehmen (§ 15 AktG) in Bezug auf ähnliche Angelegenheiten parallele Verfahren führt;
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der Kläger oder sein Prozessbevollmächtigter in diesem oder parallelen Verfahren Einschüchterung, Belästigung oder Drohung als Mittel nutzt;
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der Kläger in der Absicht der Prozessverschleppung handelt.
Es handelt sich um eine offene („insbesondere“) Liste; entscheidend ist die wertende Gesamtbetrachtung.
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Ausnahmen (§ 615 Abs. 3 ZPO)
Die SLAPP-Regeln gelten nicht:-
bei rein innerdeutschen Fällen (beide Parteien mit Wohnsitz im Inland, alle Sachverhaltselemente im Inland);
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bei der Geltendmachung von Ansprüchen aus Staats- oder Amtshaftung für hoheitliches Handeln (acta iure imperii).
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Systematik
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§ 615 stellt klar, dass die §§ 616–619 ergänzend zu den allgemeinen Verfahrensvorschriften (Bücher 1–3 und 8 ZPO) gelten.
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Die Regeln gelten auch im Instanzenzug sowie im einstweiligen Rechtsschutz und (über § 13b ArbGG) im arbeitsgerichtlichen Verfahren.
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4.2 § 616 ZPO – Vorrang- und Beschleunigungsgebot
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Inhalt: Verfahren, die die Voraussetzungen des § 615 erfüllen, sind vorrangig und beschleunigt durchzuführen.
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Praktische Konsequenzen:
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Vorrangige Terminierung von Güte- und Hauptverhandlungsterminen,
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kurze, strikt bemessene Schriftsatzfristen,
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restriktives Vorgehen bei Fristverlängerungsanträgen,
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insgesamt zügige Verfahrensführung, um die Belastungswirkung des Verfahrens zu minimieren.
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Dadurch wird die Richtlinienpflicht umgesetzt, SLAPP-Klagen im frühestmöglichen Stadium zu erledigen, ohne den materiell-rechtlichen Prüfungsmaßstab abzusenken.
4.3 § 617 ZPO – Prozesskostensicherheit
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Grundsatz:
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Der Kläger muss auf Verlangen des Beklagten Prozesskostensicherheit leisten.
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Es gelten die §§ 111–113 ZPO (Art und Umfang der Sicherheit, Rechtsfolgen bei Nichtleistung).
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Besonderheit gegenüber § 110 ZPO:
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Die in § 110 ZPO vorgesehenen besonderen Voraussetzungen und Ausnahmen (Ausländer, Inlandsvermögen etc.) werden für SLAPP-Verfahren überlagert:
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In einem nach § 615 qualifizierten Verfahren folgt das Gericht dem Antrag des Beklagten, sofern es die Missbräuchlichkeit bejaht; auf die üblichen Tatbestände des § 110 ZPO kommt es nicht an.
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Wirkung:
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Erhebliches zusätzliches Kostenrisiko und Liquiditätsbelastung für den SLAPP-Kläger;
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Stärkung der Verhandlungsposition und des Schutzes des Beklagten.
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4.4 § 618 ZPO – Kostenentscheidung, besondere Gebühr, Umfang der Kostenpflicht
§ 618 enthält drei wesentliche Elemente:
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Feststellung des missbräuchlichen Charakters in der Entscheidungsformel (§ 618 Abs. 1)
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Das Gericht muss im Kostentenor ausdrücklich feststellen, dass der Rechtsstreit aufgrund der Beteiligung des Beklagten am öffentlichen Meinungsbildungsprozess missbräuchlich geführt wurde.
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Diese Feststellung ist Grundlage für die besonderen Kosten- und Sanktionsfolgen.
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Besondere Gerichtsgebühr zulasten des Klägers (§ 618 Abs. 2)
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Das Gericht kann dem Kläger eine zusätzliche Gerichtsgebühr nach Nr. 1903 KV GKG auferlegen.
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Höhe: bis zum doppelten Gebührensatz der für das Verfahren im Allgemeinen maßgeblichen Gebühr (Ermäßigungstatbestände bleiben unberücksichtigt).
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Es handelt sich um eine sanktionsartige Zusatzgebühr zur Abschreckung missbräuchlicher Kläger.
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Erweiterte Kostenerstattung des Beklagten (§ 618 Abs. 3)
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Dem obsiegenden Beklagten sind die Kosten seines Rechtsanwalts auch über die gesetzlichen Gebühren und Auslagen hinaus zu erstatten,
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soweit diese nicht überhöht sind.
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Damit wird Art. 14 der Richtlinie umgesetzt: In SLAPP-Verfahren kann die obsiegende Beklagtenseite z. B. auch erhöhte Honorarvereinbarungen (Stundensätze, Spezialkanzlei) ersetzt verlangen, soweit sie sich im Rahmen halten.
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4.5 § 619 ZPO – Veröffentlichung von Urteilen
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Pflicht zur Veröffentlichung:
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Berufungs- und Revisionsgerichte müssen rechtskräftige Urteile in SLAPP-Verfahren elektronisch, leicht zugänglich und anonymisiert/pseudonymisiert veröffentlichen.
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Zweck:
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Transparenz, Dokumentation und Sensibilisierung für SLAPP-Phänomene;
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zugleich Beitrag zur unionsrechtlich geforderten Datenerhebung und Evaluationsgrundlage.
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Änderungen im Arbeitsgerichtsgesetz (§ 13b ArbGG)
Der neue § 13b ArbGG überträgt die SLAPP-Regeln der ZPO in die Arbeitsgerichtsbarkeit:
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Verweis auf ZPO-Regime
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§ 13b Abs. 1 ArbGG ordnet an, dass der neue Abschnitt 3 des 6. Buchs der ZPO (SLAPP-Regeln) in arbeitsgerichtlichen Verfahren entsprechend gilt, soweit das ArbGG nichts anderes bestimmt.
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Besondere Gerichtsgebühr im Arbeitsgerichtsverfahren (§ 13b Abs. 2 ArbGG)
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Anstelle der Nr. 1903 KV GKG gilt im Arbeitsgerichtsverfahren eine besondere Gebühr nach Nr. 8701 KV GKG; auch hier kann das Gericht eine zusätzliche Gebühr „wie vom Gericht bestimmt“ festsetzen.
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Eine Ermäßigung oder ein Wegfall der regulären Verfahrensgebühr bleibt unberücksichtigt.
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Durchbrechung des § 12a ArbGG (§ 13b Abs. 3 ArbGG)
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§ 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG (kein Anspruch auf Kostenerstattung für die Beauftragung eines Rechtsanwalts in der ersten Instanz) gilt nicht,
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wenn das Gericht nach § 618 Abs. 1 ZPO festgestellt hat, dass der Rechtsstreit wegen der öffentlichen Beteiligung missbräuchlich geführt wurde.
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Ergebnis: In solchen arbeitsgerichtlichen SLAPP-Verfahren kann der Beklagte seine Anwaltskosten ersetzt verlangen, ggf. über das RVG hinaus.
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Änderungen im Gerichtskostengesetz (GKG)
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Neuer Gebührentatbestand Nr. 1903 KV GKG
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„Auferlegung einer Gebühr nach § 618 Abs. 2 ZPO in missbräuchlichen Verfahren gegen Personen aufgrund ihrer Beteiligung am öffentlichen Meinungsbildungsprozess“.
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Gebühr: „wie vom Gericht bestimmt“ (innerhalb der durch § 618 Abs. 2 ZPO vorgegebenen Spanne bis zur doppelten Verfahrensgebühr).
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Neuer Gebührentatbestand Nr. 8701 KV GKG
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Entsprechender Gebührentatbestand für Verfahren vor den Gerichten für Arbeitssachen (§ 13b Abs. 2 ArbGG i.V.m. § 618 Abs. 2 ZPO).
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Systematische Anpassung
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Überschrift des Hauptabschnitts 7 in Teil 8 des Kostenverzeichnisses wird zu „Besondere Gebühren“ geändert, um die neuen Sanktionsgebühren systematisch einzuordnen.
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Was der Entwurf ausdrücklich nicht regelt
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Keine Einschränkung des materiellen Äußerungs- und Presserechts
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Die materiellen Anspruchsgrundlagen (z. B. §§ 823 ff. BGB, §§ 1004, 185 ff. StGB, Medienrecht) bleiben unverändert.
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Die Gerichte bleiben in der materiell-rechtlichen Prüfung vollumfänglich gebunden.
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Keine eigenständige „Anti-SLAPP-Entscheidung” nach summarischer Prüfung
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Die Richtlinie lässt eine besondere „Frühabweisung“ zu; der deutsche Gesetzgeber beschränkt sich darauf, die Verfahren vorrangig und beschleunigt zu behandeln (§ 616 ZPO), verzichtet aber auf ein besonderes verkürztes Entscheidungsverfahren mit abgesenktem Prüfungsmaßstab.
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Anerkennung ausländischer Urteile
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Die Versagung der Anerkennung/Vollstreckung ausländischer SLAPP-Urteile erfolgt über den allgemeinen ordre-public-Vorbehalt des § 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO, nicht über eine neue Spezialnorm.
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Beschränkung auf grenzüberschreitende Fälle
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Die Richtlinie lässt es zu, dass die Mitgliedstaaten nur den unionsrechtlich geforderten Anwendungsbereich umsetzen.
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Deutschland nutzt diese Möglichkeit und verzichtet derzeit auf eine Ausdehnung des SLAPP-Schutzes auf rein innerstaatliche Verfahren.
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Gesamtwirkung
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Der Entwurf schafft ein prozedurales Schutzschild für Personen, die sich öffentlich äußern und deshalb mit missbräuchlichen Verfahren überzogen werden.
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Die wesentlichen Schutzinstrumente sind:
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Vorrangige, beschleunigte Behandlung der Verfahren,
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Prozesskostensicherheit auf Antrag des Beklagten,
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erweiterte Kostenerstattung für den Beklagten (inkl. Honorarvereinbarungen über RVG-Niveau),
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zusätzliche Sanktionsgebühren gegen den Kläger,
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öffentliche Dokumentation durch Veröffentlichung der Urteile,
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zusätzlicher Gerichtsstand für Schadensersatzklagen gegen SLAPP-Verfahren in Drittstaaten.
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Damit setzt der Regierungsentwurf die Anti-SLAPP-Richtlinie unionsrechtskonform und auf den notwendigen Kern beschränkt in das deutsche Prozessrecht um und versucht, Abschreckungswirkung gegen missbräuchliche Einschüchterungsklagen zu entfalten, ohne das allgemeine Prozess- und Kostenrecht systemwidrig zu überformen.
