Keine Abschiebung nach Irland

Verwaltungsgericht Berlin schützt EU-Freizügigkeit trotz Teilnahme an propalästinensischen Protesten.
Das Verwaltungsgericht Berlin hat in einem aktuellen Eilverfahren entschieden, dass eine irische Staatsbürgerin vorerst nicht nach Irland abgeschoben werden darf. Die Entscheidung betrifft den Entzug ihrer EU-Freizügigkeitsrechte durch das Berliner Landesamt für Einwanderung (LEA) im Zusammenhang mit ihrer Teilnahme an propalästinensischen Demonstrationen.
Hintergrund der Ausweisungsverfügung
Im März 2025 entzog das LEA mehreren ausländischen Staatsangehörigen, darunter zwei irischen EU-Bürgern, einer polnischen EU-Bürgerin und einer US-amerikanischen Staatsangehörigen, das Aufenthaltsrecht bzw. leitete Ausweisungsverfahren ein. Begründet wurde dies mit ihrer Beteiligung an propalästinensischen Protesten, insbesondere an einer Besetzung des Präsidiumsgebäudes der Freien Universität Berlin im Oktober 2024, bei der es zu Sachbeschädigungen und Bedrohungen von Mitarbeitenden gekommen sein soll. Die Behörden sahen in diesen Handlungen eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit.
Gerichtliche Bewertung
Das Verwaltungsgericht stellte fest, dass die Ausländerbehörde ihrer Amtsermittlungspflicht nicht ausreichend nachgekommen sei. Insbesondere habe das LEA versäumt, die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft anzufordern, um die individuelle Beteiligung der Betroffenen an den vorgeworfenen Straftaten zu klären. Das Gericht betonte, dass für den Entzug der EU-Freizügigkeit konkrete und individuelle Gefährdungen der öffentlichen Ordnung nachgewiesen werden müssen. Allgemeine Verdachtsmomente oder nicht abgeschlossene Ermittlungsverfahren reichen hierfür nicht aus.
In Bezug auf die irische Antragstellerin entschied das Gericht, dass der Entzug der Freizügigkeitsrechte und die angedrohte Abschiebung nicht verhältnismäßig seien, solange keine ausreichenden Beweise für eine individuelle Gefährdung vorliegen. Die aufschiebende Wirkung ihrer Klage wurde daher wiederhergestellt, sodass sie bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren in Deutschland bleiben darf.
Bedeutung für das Freizügigkeitsrecht
Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts unterstreicht die hohen Anforderungen an den Entzug von EU-Freizügigkeitsrechten. Nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU kann die Freizügigkeit nur bei Vorliegen einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit entzogen werden. Dabei müssen die Maßnahmen auf das persönliche Verhalten der betroffenen Person gestützt sein und dürfen nicht allein auf allgemeinen Erwägungen beruhen.
Ausblick
Das Hauptsacheverfahren zur Klärung der Rechtmäßigkeit des Freizügigkeitsentzugs steht noch aus. Bis zu einer endgültigen Entscheidung bleibt die irische Staatsbürgerin berechtigt, sich in Deutschland aufzuhalten. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts könnte auch Auswirkungen auf die Verfahren der anderen betroffenen Personen haben, sofern ähnliche rechtliche und tatsächliche Konstellationen vorliegen.
Inhalt des Freizügigkeitsrechts in der EU
Das Freizügigkeitsrecht erlaubt es EU-Bürgern:
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in jedem Mitgliedstaat der EU einzureisen,
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sich dort für bis zu drei Monate ohne Bedingungen aufzuhalten,
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über diesen Zeitraum hinaus zu bleiben, wenn sie Arbeitnehmer oder Selbständige sind, über ausreichende Existenzmittel verfügen oder eine Ausbildung absolvieren,
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nicht aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit diskriminiert zu werden.
Das Freizügigkeitsrecht ist allerdings nicht absolut, sondern kann aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit eingeschränkt werden – jedoch nur unter engen Voraussetzungen.
Rechtsgrundlage: Art. 21 AEUV
Die zentrale unionsrechtliche Grundlage für das Freizügigkeitsrecht ist Artikel 21 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Dieser lautet wörtlich:
„Jeder Unionsbürger hat das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, vorbehaltlich der im Vertrag und in den zur Durchführung vorgesehenen Maßnahmen enthaltenen Beschränkungen und Bedingungen.“
Ergänzt wird diese Vorschrift durch die Richtlinie 2004/38/EG (sog. Unionsbürgerrichtlinie), welche in deutsches Recht insbesondere durch das Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) umgesetzt wurde. Dort bestimmt § 2 Abs. 1 FreizügG/EU:
„Unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt sind Unionsbürger, die sich nach Maßgabe dieses Gesetzes im Bundesgebiet aufhalten dürfen.“
Einschränkungen: § 6 FreizügG/EU
Beschränkungen des Freizügigkeitsrechts regelt § 6 FreizügG/EU. § 6 Abs. 1 lautet:
„Die Ausübung der Freizügigkeit […] kann nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit […] beschränkt oder entzogen werden.“
Diese Vorschrift verlangt, dass konkrete Tatsachen vorliegen, aus denen sich eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefährdung ergibt. Pauschale Bewertungen oder Generalverdacht reichen nach ständiger Rechtsprechung nicht aus.
Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin, einer irischen Staatsbürgerin den Verbleib in Deutschland trotz Teilnahme an propalästinensischen Protesten zu gestatten, ist sowohl verfassungs- und unionsrechtlich als auch außenpolitisch sensibel.
Rechtliche Ausgangslage: Schutzbereich der Freizügigkeit
Die Antragstellerin ist irische Staatsbürgerin und damit Unionsbürgerin im Sinne von Art. 20 und 21 AEUV. Ihr Aufenthalt in Deutschland fällt in den Anwendungsbereich des Freizügigkeitsrechts gemäß der Richtlinie 2004/38/EG und des FreizügG/EU. Die Ausweisung und Abschiebung eines EU-Bürgers setzt nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU i.V.m. Art. 27 der Richtlinie voraus, dass sein persönliches Verhalten eine „tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefährdung eines Grundinteresses der Gesellschaft“ darstellt.
Das Verwaltungsgericht stellte jedoch fest, dass die Ausländerbehörde ihre Entscheidung nicht auf überprüfbare individuelle Erkenntnisse gestützt hatte. Insbesondere hatte sie die strafrechtlichen Ermittlungsakten nicht beigezogen und sich auf pauschale Presseberichte und generalisierte Einschätzungen gestützt. Dies genügt nicht den verfassungs- und unionsrechtlichen Anforderungen an den Entzug von Freizügigkeitsrechten.
Keine abstrakte Gefährdung durch politische Gesinnung
Der Staat darf nicht allein aufgrund der geäußerten politischen Meinung oder Teilnahme an Demonstrationen Aufenthaltsrechte entziehen. Dies gebietet sowohl das Grundrecht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1, Art. 8 GG) als auch das unionsrechtliche Diskriminierungsverbot (Art. 18 AEUV). Auch wenn die Demonstration propalästinensisch ausgerichtet war, ist nicht automatisch davon auszugehen, dass eine gegen Israel gerichtete, sicherheitsrelevante Haltung vorlag.
Selbst eine israelbezogene Kritik, die etwa die Besatzungspolitik oder militärische Maßnahmen verurteilt, fällt grundsätzlich unter die Meinungsfreiheit – solange sie nicht in antisemitische, volksverhetzende oder gewaltverherrlichende Inhalte umschlägt. Das Berliner Verwaltungsgericht betonte daher zu Recht die Notwendigkeit einer Einzelfallprüfung.
Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zum Staat Israel
Die besondere Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit des Staates Israel ergibt sich aus der historischen Schuld des Holocaust. Sie ist staatsräsonpolitisch bedeutsam, aber keine rechtliche Schranke, die über Art. 5 GG hinausgeht. Politische Parteinahme für Israel kann nicht dazu führen, dass jede israelkritische Äußerung oder Demonstration per se als Sicherheitsbedrohung eingestuft wird.
Das Gericht hat also – rechtsstaatlich korrekt – zwischen der berechtigten historischen Verantwortung gegenüber Israel und dem geltenden Individualgrundrechtsschutz auch für EU-Bürger unterschieden. Eine restriktive Maßnahme hätte eine verfassungs- und unionsrechtlich unzulässige Vorverlagerung von Gesinnungsstrafrecht bedeutet.
Entscheidung rechtsstaatlich geboten
Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin ist juristisch zutreffend und verhältnismäßig. Sie wahrt den hohen Schutz des Freizügigkeitsrechts nach Unionsrecht und respektiert zugleich die verfassungsrechtlich garantierten Freiheitsrechte. Das Gericht hat klar gemacht, dass der Staat nur dann in diese Rechte eingreifen darf, wenn eine konkrete, belegbare Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch individuelles Verhalten nachgewiesen werden kann.
Gleichzeitig bleibt es den Sicherheitsbehörden unbenommen, bei tatsächlicher Eskalation von Gewalt oder bei volksverhetzenden Aussagen konsequent durchzugreifen. Eine bloße Teilnahme an Protesten – auch mit israelkritischem Hintergrund – reicht für eine Abschiebung hingegen nicht aus.
Quellen:
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Art. 21 AEUV
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Richtlinie 2004/38/EG
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§ 6 FreizügG/EU
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VG Berlin, Beschluss vom 6. Mai 2025 – Az. VG 15 L 157/25
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BVerfG, Beschluss v. 17.05.2016 – 1 BvR 3080/09 (zur Meinungsfreiheit)
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Deutscher Bundestag, Drucksache 19/7690: „Staatsräson und Israel – was folgt daraus?“