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Zwischen Vorbild und Widerspruch – Ein Vergleich der Korruptionsbekämpfung in Deutschland und der Ukraine

Arbeitsrecht – Erbrecht - Kommunalrecht

Zwischen Vorbild und Widerspruch – Ein Vergleich der Korruptionsbekämpfung in Deutschland und der Ukraine

europa

Die Proteste in der Ukraine gegen das umstrittene Gesetz zur Unterstellung der Anti-Korruptionsbehörden NABU und SAPO unter die Kontrolle des Generalstaatsanwalts haben eine zentrale Frage neu aufgeworfen: Wie unabhängig muss die Korruptionsverfolgung in einem rechtsstaatlichen Gemeinwesen organisiert sein, um sowohl den Anforderungen der Europäischen Union als auch den Erwartungen an eine funktionierende Gewaltenteilung zu genügen?

Während Präsident Selenskyj nun zurückrudert und eine Wiederherstellung der institutionellen Eigenständigkeit verspricht, betonen europäische Partner – insbesondere die EU-Kommission und Deutschland – die Unverzichtbarkeit staatsferner Ermittlungsstrukturen im Kampf gegen Machtmissbrauch. Doch bei näherer Betrachtung zeigt sich: Auch in Deutschland ist die Korruptionsverfolgung keineswegs so unabhängig organisiert, wie es gegenüber Drittstaaten häufig gefordert wird.

So unterstehen in der Bundesrepublik die Staatsanwaltschaften gemäß § 146 GVG weiterhin der Weisungsbefugnis der Justizministerien, auch in Einzelfällen. Spezialisierte, institutionell autonome Anti-Korruptionsbehörden mit eigenem Status, wie sie in der Ukraine (bisher) existierten, sind in Deutschland nicht vorgesehen. Die Ermittlungen erfolgen im Rahmen der allgemeinen Strafverfolgungsstruktur – ohne funktionelle Unabhängigkeit und mit föderal fragmentierter Zuständigkeit.

§ 146 StPO – Weisungsrecht

„Die Beamten der Staatsanwaltschaft haben den dienstlichen Anweisungen ihres Vorgesetzten nachzukommen.“

  • Dieser Satz ist die gesetzliche Grundlage für die Hierarchie innerhalb der Staatsanwaltschaft.

  • Daraus folgt, dass auch der Justizminister als Behördenleiter im Rahmen dieser Hierarchie Weisungen erteilen kann, insbesondere über den Generalstaatsanwalt und die Oberstaatsanwälte.

  • Die Rechtsprechung und Literatur sprechen insoweit von einer „externen Weisungsbefugnis“ (Minister → Generalstaatsanwalt → Staatsanwaltschaft).

Die Weisungsbefugnis ist nicht verfassungswidrig, steht aber in Spannung zum Gewaltenteilungsprinzip. Kritisch wird insbesondere gesehen:

  • dass Einzelfallweisungen möglich sind (z. B. „Verfahren gegen Person X einstellen“).

  • dass die Exekutive damit Einfluss auf die Ermittlungsrichtung nehmen kann – ohne parlamentarische oder gerichtliche Kontrolle.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in mehreren Urteilen (u. a. C‑508/18 „Puigdemont“) angedeutet, dass ein derart weisungsgebundenes System nicht mit dem europäischen Haftbefehl kompatibel sein muss, da es an „justizieller Unabhängigkeit“ fehlt.

Vor diesem Hintergrund lohnt ein präziser Vergleich: Welche institutionellen Modelle zur Korruptionsbekämpfung existieren in Deutschland und der Ukraine – und welchen Maßstäben genügen sie nach europäischem Verfassungsverständnis?


Hintergrund: Ein neues umstrittenes Gesetz in der Ukraine

Am 22. Juli 2025 hat das ukrainische Parlament ein umstrittenes Gesetz verabschiedet, das das Nationale Antikorruptionsbüro der Ukraine (NABU) und die Spezialisierte Antikorruptionsstaatsanwaltschaft (SAPO) faktisch unter Kontrolle des Generalstaatsanwalts stellt – einer Position, die direkt vom Präsidenten besetzt wird. Kritiker befürchteten einen massiven Rückschritt bei der institutionellen Unabhängigkeit und dem Anti-Korruptionskampf. Das führte zu landesweiten Protesten – trotz Kriegsrecht – mit tausenden Demonstrierenden in Städten wie Kiew, Lwiw, Dnipro und Odessa.

Reaktion der Bevölkerung & internationale Kritik

  • Innenpolitisch: Die Proteste markierten die größten Antiregierungsdemonstrationen seit Kriegsbeginn; sogar Soldaten widersetzten sich Verbotsanordnungen.

  • International: EU-Kommission und G7-Staaten äußerten starke Besorgnis. Deutschland warnte vor einer Gefährdung der EU‑Beitrittsperspektive.

Kehrtwende: Selenskyjs  Ankündigung

Am 24. Juli 2025 kündigte Präsident Volodymyr Selenskyj eine politische Wende an:

  • Er habe ein neues Gesetzesentwurf genehmigt, das die Unabhängigkeit von NABU und SAPO vollständig wiederherstellen soll. Dieser Entwurf werde noch am selben Tag dem Parlament zur Abstimmung vorgelegt.

  • Zu den geplanten Maßnahmen gehören u. a.:

    • Ausschluss politischer Weisungen durch den Generalstaatsanwalt.

    • Wiederherstellung aller Verfahrensbefugnisse der Anti-Korruptionsbehörden.

    • Zusätzliche Kontrollmechanismen, darunter verpflichtende Lügendetektortests (Polygraph) für bestimmte entehrungsgefährdete Positionen, um russische Einflussnahme auszuschließen


🇺🇦 1. Aktuelle Struktur der Korruptionsbekämpfung in der Ukraine

(1) NABU – Nationales Antikorruptionsbüro der Ukraine

  • Ermittlungsbehörde, gegründet 2015.

  • Unabhängige Institution mit eigenem Direktionsstab.

  • Ermittelt in Fällen von hochrangiger Korruption, insbesondere gegen Amtsträger auf zentralstaatlicher Ebene.

  • Ermittlungsbeamte besitzen ähnliche Befugnisse wie die Polizei (Observation, Durchsuchung etc.).

  • Der Direktor wird vom Präsidenten ernannt – nach einem Auswahlverfahren mit internationaler Beteiligung.

(2) SAPO – Sonderstaatsanwaltschaft zur Korruptionsbekämpfung (Specialized Anti-Corruption Prosecutor’s Office)

  • Spezialisierte Staatsanwaltschaft, die NABU-Ermittlungen anleitet und Anklage erhebt.

  • Formell Teil der Generalstaatsanwaltschaft, aber mit besonderem Autonomiestatus.

  • Der Leiter von SAPO wird in einem gesonderten Verfahren gewählt – zuletzt unter Mitwirkung einer internationalen Kommission.

(3) HACC – Hohes Antikorruptionsgericht (High Anti-Corruption Court)

  • Seit 2019 aktiv, zuständig für Gerichtsverfahren in NABU/SAPO-Fällen.

  • Unabhängige Gerichtsbarkeit, mit speziell ernannten Richtern und internationalen Beobachtern im Auswahlprozess.

  • Ziel: Verhinderung lokaler Einflussnahme und Durchsetzung hoher Urteilsqualität.

🇩🇪 Deutschland – Dezentrale, weisungsgebundene Struktur

Merkmal Deutschland
Institutionelle Struktur Keine eigene nationale Anti-Korruptionsbehörde – Korruption wird durch reguläre Polizei- und Justizorgane bearbeitet (LKA, Staatsanwaltschaften, vereinzelt Schwerpunkteinheiten).
Staatsanwaltschaften Weisungsgebunden gegenüber den Justizministerien der Länder (Art. 30, 83 GG), d. h. theoretisch politisch beeinflussbar.
Exekutive Einflussnahme Formal zulässig durch ministerielle Einzelweisung (selten, aber rechtlich erlaubt).
Prävention Zuständigkeit liegt bei einzelnen Behörden, z. B. durch Korruptionsbeauftragte, Vergabekontrollen, interne Audits.
Unabhängigkeit durch Dezentralität Kein zentrales Machtzentrum, aber auch keine zentrale Kontrollinstanz. Schutz durch Föderalismus, aber keine institutionelle Abschottung gegen politische Einflussnahme.
Justiz und Gerichte Gerichte sind unabhängig, aber Verfolgung hängt von staatsanwaltlicher Anklage ab.
Externe Kontrolle Rechnungshöfe, Datenschutzbeauftragte, gelegentlich parlamentarische Untersuchungsausschüsse.
Internationale Einbindung Deutschland ist Mitglied bei GRECO, OECD-Anti-Bribery-Convention, UNCAC – aber teils Kritik an mangelhafter Umsetzung.

Bewertung:

  • Deutschland setzt auf bewährte, rechtsstaatlich eingehegte Institutionen, die jedoch nicht institutionell unabhängig sind – besonders kritisch im Vergleich zu EU-Empfehlungen zur Trennung von Exekutive und Justiz (Weisungsrecht).

  • Ukraine hatte mit NABU/SAPO/HACC ein international vorbildhaftes Modell geschaffen – dieses wird jedoch durch das neue Gesetz strukturell entkernt.

  • In der Praxis ist Deutschland in der Effizienz und Rechtsdurchsetzung teils erfolgreicher – aber die Ukraine hatte (bis 2025) institutionell das modernere, unabhängigere Modell.


Die Anforderungen der EU an die institutionelle Unabhängigkeit der Justiz:

  • Art. 2 EUV (Rechtsstaatlichkeit)

  • Art. 6 Abs. 1 EMRK (faires Verfahren, unabhängiges Gericht)

  • sowie aus dem EU-Rechtsstaatlichkeitsbericht, den die Kommission jährlich für jeden Mitgliedstaat erstellt.

Dabei gelten als zentrale Mindestanforderungen:

  1. Strukturelle Unabhängigkeit der Gerichte (auch gegenüber Exekutive und Legislative)

  2. Effektiver Rechtsschutz vor unabhängigen Instanzen

  3. Kein politischer Einfluss auf Staatsanwälte in konkreten Verfahren

  4. Transparente Ernennung und Disziplinierung von Richter:innen

  5. Institutionelle Absicherung der Korruptionsbekämpfung (unabhängig, effektiv, ressourcenstark)


🇩🇪 Erfüllt Deutschland diese Anforderungen? – Nur teilweise

Kriterium Bewertung für Deutschland
Richterliche Unabhängigkeit ✅ Hoch – Richter:innen sind sachlich und persönlich unabhängig (Art. 97 GG).
Staatsanwaltschaft Weisungsgebundenheit an die Justizministerien (§ 146 GVG) steht unter scharfer EU-Kritik (z. B. Puigdemont-Entscheidung des EuGH, C-508/18).
Institutionelle Korruptionsbekämpfung ⚠️ Kein zentrales, unabhängiges Anti-Korruptionsorgan; Ermittlungen sind auf Polizei/StA verteilt, mit regionaler Varianz.
Richterernennung ⚠️ Teilweise politisch gesteuert über Richterwahlausschüsse auf Landesebene oder durch Exekutive (Bsp. BGH: Vorschlag durch BMJ).
Rechtsstaatlichkeitsbericht EU 2024 Enthält Hinweise auf Reformbedarf beim Einfluss der Exekutive auf die Staatsanwaltschaft.


Die richterliche Unabhängigkeit ist stark, aber die Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaft bleibt ein rechtsstaatliches Defizit, das im Europäischen Haftbefehlssystem (EuGH) bereits zu Problemen geführt hat.


Welche EU-Staaten erfüllen die Anforderungen nicht (ganz oder gar nicht)?

🔴 Polen

  • Rechtsstaatsmechanismus ausgelöst (Art. 7 EUV)

  • Politische Kontrolle über Richterernennung (Justizrat)

  • Disziplinarmaßnahmen gegen regierungskritische Richter

  • EU hat Zahlungen ausgesetzt (RRF-Mittel)

🔴 Ungarn

  • Systematische Aushöhlung der Gewaltenteilung

  • Ernennung von Richtern durch regierungsnahe Institutionen

  • Keine funktionierende Anti-Korruptionsverfolgung

  • EU sperrte >10 Mrd. € Fördermittel

🟠 Rumänien und Bulgarien

  • Fortschritte, aber:

    • Einfluss der Exekutive auf Richterbesetzung

    • Schwache oder politisierte Korruptionsermittlungen

    • CVVM-Mechanismus (Kooperations- und Kontrollverfahren) läuft aus, aber mit Vorbehalten

🟡 Griechenland

  • Kritik an langsamen Verfahren und politischer Einflussnahme auf Staatsanwaltschaften

  • Korruptionsverfahren (z. B. Novartis-Skandal) blieben folgenlos

🟡 Slowakei und Tschechien

  • Probleme bei politischem Druck auf Generalstaatsanwälte und der Durchführung großer Verfahren gegen Oligarchen

  • Reaktionen auf Journalistenmord (Kuciak) haben Reformdruck erhöht


🟢 Wer erfüllt die Anforderungen vorbildlich?

Land Bemerkung
🇫🇮 Finnland Hochgradig unabhängige Justiz, sehr transparente Ernennungsverfahren, starke Anti-Korruptionsstruktur
🇳🇱 Niederlande Unabhängige Justiz und StA, staatsanwaltschaftliche Autonomie ist gesetzlich gesichert
🇸🇪 Schweden Kein Weisungsrecht gegenüber StA, hohe institutionelle Transparenz
🇩🇰 Dänemark Effektive Korruptionsbekämpfung, starke Zivilkontrolle und unabhängige Institutionen

 

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