Merz scheitert bei 1. Wahl zum Bundeskanzler

Eine Einordnung:
Das Scheitern von Friedrich Merz im ersten Wahlgang zur Wahl des Bundeskanzlers am 6. Mai 2025 stellt ein Novum in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland dar und wirft bedeutende staatsrechtliche Fragen auf.
Art. 63 GG
(1) Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestage ohne Aussprache gewählt.(2) Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt. Der Gewählte ist vom Bundespräsidenten zu ernennen.(3) Wird der Vorgeschlagene nicht gewählt, so kann der Bundestag binnen vierzehn Tagen nach dem Wahlgange mit mehr als der Hälfte seiner Mitglieder einen Bundeskanzler wählen.(4) Kommt eine Wahl innerhalb dieser Frist nicht zustande, so findet unverzüglich ein neuer Wahlgang statt, in dem gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhält. Vereinigt der Gewählte die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich, so muß der Bundespräsident ihn binnen sieben Tagen nach der Wahl ernennen. Erreicht der Gewählte diese Mehrheit nicht, so hat der Bundespräsident binnen sieben Tagen entweder ihn zu ernennen oder den Bundestag aufzulösen.
Zwei Wahlgänge, ein Kanzler – aber auf Kosten demokratischer Ernsthaftigkeit?
Am 6. Mai 2025 wurde Friedrich Merz dann im zweiten Wahlgang vom Deutschen Bundestag zum Bundeskanzler gewählt. Dass dies nicht bereits im ersten Wahlgang geschah, obwohl seine Koalition aus CDU/CSU und SPD über eine komfortable Mehrheit verfügt, wirft schwerwiegende staatsrechtliche und institutionelle Fragen auf, insbesondere zum Rollenverständnis einzelner Abgeordneter im parlamentarischen System der Bundesrepublik Deutschland.
I. Verfassungsrechtlicher Rahmen: Art. 63 GG
Nach Artikel 63 Absatz 1 GG schlägt der Bundespräsident dem Bundestag einen Kandidaten zur Wahl des Bundeskanzlers vor. Der Bundestag wählt diesen ohne Aussprache; erforderlich ist die sogenannte Kanzlermehrheit – die Mehrheit der Mitglieder, nicht lediglich der abgegebenen Stimmen. Im konkreten Fall wären 316 Stimmen erforderlich gewesen; Friedrich Merz erhielt im ersten Wahlgang jedoch nur 310.
Das verfassungsrechtliche Verfahren sieht zwar vor, dass es mehrere Wahlgänge geben kann – es ist jedoch normativ kein Spielraum für taktische Manöver oder symbolische Abweichungen vorgesehen. Die Konstruktion parlamentarischer Wahlgänge dient der staatlichen Stabilität, nicht der politischen Dramaturgie.
II. Die Rolle des einzelnen Abgeordneten: Freiheit des Mandats versus institutionelle Verantwortung
Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 GG garantiert, dass Abgeordnete „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“ sind. Dies ist Ausdruck individueller Gewissensverantwortung – nicht aber ein Freibrief für symbolische Demonstrationen innerhalb eines elementaren Staatsakts wie der Kanzlerwahl.
Das Verhalten der offenbar abweichenden Abgeordneten wirft daher staatsrechtlich relevante Fragen auf:
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Ist es mit dem Geist des Grundgesetzes vereinbar, einen Kandidaten ohne politische Begründung im ersten Wahlgang durchfallen zu lassen, um ihn dann Stunden später mit der exakt gleichen politischen Agenda zu wählen?
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Welcher Begriff von Verantwortung gegenüber dem Volk und der Stabilität der Regierung liegt einem solchen Verhalten zugrunde?
Die Antwort kann aus staatspolitischer Sicht nur lauten: Ein solches Verhalten mag formell gedeckt sein – materiell aber beschädigt es das Vertrauen in die Verlässlichkeit parlamentarischer Prozesse.
III. Demokratische Ernsthaftigkeit ist kein taktischer Spielraum
Die demokratische Ordnung lebt von Verlässlichkeit. Eine Kanzlerwahl ist kein Raum für parteiinterne Machtproben oder symbolische Disziplinierungsversuche. Wer im ersten Wahlgang aus Überzeugung nicht wählt, kann im zweiten nicht glaubwürdig die gleiche Person mit denselben Zielen unterstützen. Eine solche Kehrtwende innerhalb weniger Stunden kann nicht mit „Gewissensentscheidung“ begründet werden – es handelt sich erkennbar um taktische Kommunikation, nicht um staatspolitische Klarheit.
IV. Wirkung nach außen – Reaktionen der internationalen Presse
Die internationale Rezeption war eindeutig. Die Financial Times sprach von einem „beispiellosen Rückschlag“, die New York Times nannte den Vorgang ein „Lehrstück für Europas Demokratien – wie politische Unsicherheit aus selbstverschuldetem Misstrauen entsteht“. Auch spanische, französische und polnische Leitmedien kommentierten das Geschehen als „Unklarheit über Führungsfähigkeit“ und „symptomatisch für institutionelle Erosion innerhalb etablierter Demokratien“.
Es wird damit deutlich: Was im Inland als „Zeichen innerparteilicher Vielfalt“ verniedlicht wird, wirkt international wie ein Ausdruck mangelnder demokratischer Reife.
V. Mandatsfreiheit verlangt mehr als Formalität – sie verlangt Ernst
Die Bundesrepublik Deutschland lebt staatsrechtlich vom Vertrauen in die Berechenbarkeit ihrer Organe. Die Freiheit des Mandats ist ein hohes Gut – aber sie ist nicht Selbstzweck. Abgeordnete tragen eine doppelte Verantwortung: gegenüber ihrer Fraktion, aber vor allem gegenüber der Stabilität der verfassungsmäßigen Ordnung. Wer sich seiner Stimme enthält oder ablehnt, ohne transparent zu kommunizieren, warum – und dann wenige Stunden später das Gegenteil tut –, beschädigt weniger den Gewählten als die Institution selbst.
Die Kanzlerwahl ist kein Testballon, kein Protokoll des Unmuts, sondern die Schlüsselfunktion unserer parlamentarischen Ordnung. Wer sie als Bühne nutzt, statt als Pflichtakt staatspolitischer Reife, gefährdet die Integrität des Parlaments.
Aber: Die Demokratie funktioniert – auch wenn sie nicht gehorcht
Die Wahl von Friedrich Merz zum Bundestagspräsidenten im zweiten Wahlgang wurde von vielen Medien mit Worten wie Unsicherheit, Holperstart oder gar Autoritätsproblem kommentiert. Dabei wird übersehen: Genau dieser Vorgang zeigt, wie gesund unsere parlamentarische Demokratie ist.
Demokratie lebt vom offenen Verfahren – nicht von der Vorhersehbarkeit.
Dass ein Kandidat der stärksten Fraktion nicht im ersten Wahlgang gewählt wird, ist kein Zeichen von Instabilität, sondern ein Beweis dafür, dass unser Parlament funktioniert. Abgeordnete sind gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG allein ihrem Gewissen verpflichtet – nicht der Parteidisziplin. Und das wurde sichtbar: Einige Abgeordnete haben ihr Mandat nicht im Schatten der Fraktionsvorgabe ausgeübt, sondern als freie Repräsentanten des Volkes.
Ein solcher Akt ist in autoritären Systemen undenkbar. Dort ist das Ergebnis stets bekannt – nicht der Weg dorthin.
Die politische Kommentierung hingegen folgte oft einer Logik der Machtsicherung: Alles, was nicht nahtlos funktioniert, wird als Problem diagnostiziert. Doch diese Deutung ist gefährlich – sie misst Demokratie an Effizienz und unterläuft damit die Prinzipien der Gewaltenteilung und individuellen Verantwortung.
Die Wahl im zweiten Anlauf war kein Defizit – sie war Ausdruck einer gelebten, nicht simulierten Demokratie.
In Zeiten zunehmender Polarisierung und weltweiter Tendenzen zu autoritärer Politik sollten wir nicht über kleine Risse klagen, sondern stolz auf das Fundament sein: Wir haben ein Parlament, das entscheidet – und nicht nur abnickt. Genau das ist die Stärke unserer rechtsstaatlichen Ordnung.
Was medial als „holprig“ erscheint, ist in Wahrheit ein Ausweis demokratischer Reife.
Auch diese Erkenntnis gehört zum 6. Mai 2025.