Reform der Vaterschaftsanfechtung – Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 9. April 2024
I. Hintergrund
Mit Urteil vom 9. April 2024 (1 BvR 2017/21) hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass § 1600 Abs. 2 und 3 Satz 1 BGB in seiner bisherigen Fassung gegen Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verstößt. Das Gericht sah die Rechte leiblicher Väter verletzt, weil sie bislang keine hinreichend effektive Möglichkeit hatten, die rechtliche Vaterschaft eines anderen Mannes anzufechten, um selbst als rechtlicher Vater anerkannt zu werden.
§ 1600 BGB – Anfechtungsberechtigte
(1) Berechtigt, die Vaterschaft anzufechten, sind:
- 1. der Mann, dessen Vaterschaft nach § 1592 Nr. 1 und 2, § 1593 besteht,
- 2. der Mann, der an Eides statt versichert, der Mutter des Kindes während der Empfängniszeit beigewohnt zu haben,
- 3. die Mutter und
- 4. das Kind.
(2) Die Anfechtung nach Absatz 1 Nr. 2 setzt voraus, dass zwischen dem Kind und seinem Vater im Sinne von Absatz 1 Nr. 1 keine sozial-familiäre Beziehung besteht oder im Zeitpunkt seines Todes bestanden hat und dass der Anfechtende leiblicher Vater des Kindes ist.(3) Eine sozial-familiäre Beziehung nach Absatz 2 besteht, wenn der Vater im Sinne von Absatz 1 Nr. 1 zum maßgeblichen Zeitpunkt für das Kind tatsächliche Verantwortung trägt oder getragen hat. Eine Übernahme tatsächlicher Verantwortung liegt in der Regel vor, wenn der Vater im Sinne von Absatz 1 Nr. 1 mit der Mutter des Kindes verheiratet ist oder mit dem Kind längere Zeit in häuslicher Gemeinschaft zusammengelebt hat.(4) Ist das Kind mit Einwilligung des Mannes und der Mutter durch künstliche Befruchtung mittels Samenspende eines Dritten gezeugt worden, so ist die Anfechtung der Vaterschaft durch den Mann oder die Mutter ausgeschlossen.
Bis zu einer gesetzlichen Neuregelung hat das Bundesverfassungsgericht die Fortgeltung der Norm angeordnet – zuletzt verlängert bis 31. März 2026. Der nun vorliegende Regierungsentwurf der Bundesregierung schafft die notwendigen neuen rechtlichen Maßstäbe und verleiht leiblichen Vätern ein geregeltes Verfahren, um ihre rechtliche Vaterschaft durchzusetzen, ohne das Kindeswohl und bestehende soziale Familienbeziehungen zu gefährden.
II. Ausgangspunkt: Spannungsfeld zwischen biologischer und sozialer Vaterschaft
Das geltende Abstammungsrecht folgt weiterhin dem Zwei-Eltern-Prinzip (§ 1592 BGB): Ein Kind kann nur eine Mutter und einen Vater haben. Der Vater ist dabei entweder
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der Ehemann der Mutter,
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der Mann, der die Vaterschaft anerkennt, oder
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derjenige, dessen Vaterschaft gerichtlich festgestellt wurde.
Diese gesetzliche Typisierung ersetzt im Regelfall eine Prüfung der biologischen Abstammung. Konflikte entstehen, wenn der mutmaßlich leibliche Vater die Vaterschaft eines anderen Mannes anfechten möchte – insbesondere dann, wenn zwischen Kind und rechtlichem Vater bereits eine sozial-familiäre Beziehung besteht.
III. Kerninhalte des Regierungsentwurfs
1. Erweiterung der Anfechtungsrechte des leiblichen Vaters
Künftig darf der leibliche Vater die Vaterschaft eines anderen Mannes anfechten (§ 1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB-E), sofern er seine leibliche Abstammung nachweist.
Die bisherige absolute Sperre einer Anfechtung wird aufgehoben. Stattdessen wird eine differenzierte Interessenabwägung eingeführt:
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Bei volljährigen Kindern kann der leibliche Vater die Vaterschaft nur anfechten, wenn das Kind nicht widerspricht (§ 1600 Abs. 2 BGB-E).
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Bei minderjährigen Kindern bleibt die Anfechtung grundsätzlich ausgeschlossen, wenn zwischen Kind und rechtlichem Vater eine sozial-familiäre Beziehung besteht (§ 1600 Abs. 3 BGB-E).
Eine Ausnahme gilt jedoch in vier Fallgruppen:-
Es besteht auch zum leiblichen Vater eine sozial-familiäre Beziehung;
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Eine solche Beziehung bestand früher und endete ohne sein Verschulden;
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Er hat sich ernsthaft um eine Beziehung bemüht, ohne Erfolg;
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Der Ausschluss der Anfechtung wäre aus anderen Gründen grob unbillig.
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Besteht eine dieser Fallgruppen, hat das Familiengericht eine Kindeswohlprüfung vorzunehmen und kann die Anfechtung zulassen, wenn der Fortbestand der bisherigen Vaterschaft dem Kindeswohl widerspricht.
2. Einführung einer „zweiten Chance“ – Wiederaufnahme des Verfahrens
Neu ist die Möglichkeit der Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgewiesenen Anfechtungsverfahrens, wenn die sozial-familiäre Beziehung zwischen Kind und rechtlichem Vater nachträglich endet oder eine Beziehung zwischen Kind und leiblichem Vater entsteht (§ 185a FamFG-E).
Damit wird das Elternrecht des leiblichen Vaters als fortdauernd grundrechtsgeschützte Position verstanden, die auch nach Abschluss des Erstverfahrens neu geprüft werden kann.
3. Anerkennung trotz bestehender Vaterschaft (§ 1595a BGB-E)
Ein leiblicher Vater kann künftig mit Zustimmung aller Beteiligten (Mutter, bisheriger Vater, Kind) die Vaterschaft anerkennen – auch wenn bereits eine andere Vaterschaft besteht. Voraussetzung ist ein genetischer Abstammungsnachweis (§ 44a PStG-E).
Damit wird ein gerichtliches Verfahren überflüssig, wenn Einvernehmen über die leibliche Vaterschaft besteht.
4. Sperre während laufender Verfahren (§ 1594 Abs. 5 BGB-E)
Während eines gerichtlichen Verfahrens zur Feststellung der Vaterschaft darf kein anderer Mann wirksam eine Vaterschaft anerkennen, um taktische „Wettläufe um die Vaterschaft“ zu verhindern. Eine Ausnahme gilt nur, wenn der Anerkennende seine leibliche Vaterschaft genetisch nachweist und die Erklärung vor dem Gericht abgibt.
5. Stärkung der Stellung des Kindes
Das Kind wird künftig stärker einbezogen:
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Es erhält ein eigenes Zustimmungsrecht zur Vaterschaftsanerkennung (§ 1595 BGB-E),
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und wird im gerichtlichen Verfahren persönlich angehört (§ 175 FamFG-E).
Damit wird das subjektive Kindesrecht auf Achtung der familiären Bindungen gestärkt (Art. 8 EMRK, Art. 6 GG).
IV. Verfassungs- und menschenrechtliche Bewertung
Der Entwurf setzt die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts präzise um:
Er garantiert dem leiblichen Vater ein effektives, rechtstaatlich geregeltes Verfahren zur Erlangung der rechtlichen Vaterschaft und wahrt zugleich die Grundrechte des Kindes und der rechtlichen Eltern.
Zugleich steht der Entwurf im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 8 EMRK) und der UN-Kinderrechtskonvention (Art. 7 und 9 KRK).
V. Bedeutung für die Praxis
Die Reform bringt vor allem:
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mehr Rechtssicherheit für Familiengerichte,
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erweiterte Handlungsmöglichkeiten für leibliche Väter,
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besseren Schutz des Kindeswohls durch verfahrensrechtliche Sicherungen,
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und geringeren Justizaufwand durch einvernehmliche Anerkennungsmöglichkeiten.
