Strategische Fernmeldeüberwachung durch BND teilweise verfassungswidrig

Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Oktober 2024
1 BvR 1743/16, 1 BvR 2539/16
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass die Befugnis des Bundesnachrichtendienstes (BND) zur strategischen Inland-Ausland-Fernmeldeüberwachung im Bereich der Cybergefahren gemäß § 5 Abs. 1 Satz 3 Nr. 8 des Artikel 10-Gesetzes (G 10) mit dem Fernmeldegeheimnis aus Art. 10 Abs. 1 GG unvereinbar ist. Diese Regelung bleibt jedoch unter bestimmten Auflagen bis spätestens 31. Dezember 2026 in Kraft, um eine Neuregelung zu ermöglichen.
Das Urteil besagt, dass die Befugnis zur Überwachung personenbezogener Daten aus internationalen Telekommunikationsbeziehungen mit hohem Eingriffsgewicht grundsätzlich gerechtfertigt sein kann, da sie dem Schutz öffentlicher Interessen wie der Abwehr von Cyberangriffen dient. Allerdings fehlen bestimmte Regelungen, um eine unverhältnismäßige Überwachung zu verhindern. Der Senat bemängelt insbesondere das Fehlen klarer Vorschriften zur Trennung von rein inländischen Kommunikationsdaten, unzureichende Vorkehrungen zum Schutz des privaten Lebensbereichs, eine zu kurze Dokumentationsaufbewahrung und eine unzureichende Kontrolle durch die G 10-Kommission, die nicht die notwendigen fachlichen Anforderungen erfüllt.
Die Verfassungsbeschwerden stammten von deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die in Beruf und Privatleben international kommunizieren. Die Beschwerdeführer, darunter ein Datenschutzanwalt und eine Menschenrechtsorganisation, wandten sich gegen die Ermächtigung des BND zur strategischen Fernmeldeüberwachung, die auch Cyberspionage und Cybersabotage einschließt. Der Senat betont die Notwendigkeit, die Befugnisse des BND verhältnismäßig auszugestalten und fordert eine Neuregelung zur Wahrung des Fernmeldegeheimnisses.
Leitsätze zum Beschluss des Ersten Senats vom 8. Oktober 2024
– 1 BvR 1743/16 –
– 1 BvR 2539/16 – BND – Cybergefahren
- Die Befugnis zur strategischen Inland-Ausland-Fernmeldeaufklärung in Bezug auf Cybergefahren hat unter den heutigen Bedingungen der Kommunikationstechnik und ihrer Bedeutung für die Kommunikationsbeziehungen eine außerordentliche Reichweite. Das Eingriffsgewicht dieser Befugnis ist nicht mehr zu vergleichen mit demjenigen der Befugnisse, über die das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur strategischen Inland-Ausland-Fernmeldeaufklärung im Jahr 1999 zu entscheiden hatte (BVerfGE 100, 313), sondern übersteigt dieses deutlich. Zugleich haben sich die Analysemöglichkeiten der Nachrichtendienste weiterentwickelt.
- a) Diesem besonders schweren Eingriffsgewicht steht ein überragendes öffentliches Interesse an einer wirksamen Inland-Ausland-Aufklärung gegenüber. Die für die Gewichtung dieses öffentlichen Interesses bedeutsamen Umstände sind sowohl mit Blick auf die grundlegend gewandelte außen- und sicherheitspolitische Lage als auch hinsichtlich der erheblich gesteigerten technologischen Möglichkeiten, auf die bei der Entwicklung von Gefahrenlagen zulasten der staatlichen Interessen der Bundesrepublik Deutschland zurückgegriffen werden kann, ebenfalls nicht mehr mit den damaligen Gegebenheiten (BVerfGE 100, 313) vergleichbar.
b) In der digital transformierten Gesellschaft kann die Gefahr internationaler Cyberangriffe auf die IT-Infrastruktur elementarer Bereiche ein vergleichbares Ausmaß wie die Gefahr eines bewaffneten Angriffs erreichen.
Die Befugnis zur strategischen Inland-Ausland-Aufklärung ist trotz ihres besonders hohen Eingriffsgewichts aufgrund des überragenden öffentlichen Interesses grundsätzlich mit Art. 10 Abs. 1 GG vereinbar, bedarf aber der verhältnismäßigen Ausgestaltung.
Erforderlich sind danach insbesondere Maßgaben zur Aussonderung der Telekommunikationsdaten aus rein inländischen Telekommunikationsverkehren, die Gewährleistung des Kernbereichsschutzes und Löschungspflichten sowie eine unabhängige objektivrechtliche Kontrolle.