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Vertrauen, Verfahren, Verzögerung – BFH zu effektivem Rechtsschutz

Arbeitsrecht – Erbrecht - Kommunalrecht

Vertrauen, Verfahren, Verzögerung – BFH zu effektivem Rechtsschutz

Rechtsprechung

EuGH-Vorlage zur Prüfung von Gutglaubensschutz im Verfahren der Steuerfestsetzung


Sachverhalt

Die Klägerin, eine GmbH im Onlinehandel mit Schmuck und Uhren, nutzte für ihre Verkäufe in den Jahren 2013 und 2014 die Differenzbesteuerung nach § 25a UStG. Diese begünstigte Besteuerungsform setzt voraus, dass die bezogenen Gegenstände – hier Uhren – selbst der Differenzbesteuerung unterlagen, etwa weil sie als Gebrauchtwaren von berechtigten Verkäufern stammten. Im Zuge einer späteren Betriebsprüfung stellte das Finanzamt fest, dass die Vorlieferanten fälschlich die Differenzbesteuerung angewendet hatten, da es sich um Neuware handelte. Es folgte eine Umqualifikation zur Regelbesteuerung mit entsprechender Steuernachforderung.

Die Klägerin machte geltend, gutgläubig gewesen zu sein und sich auf die Rechnungsangaben ihrer Lieferanten verlassen zu haben. Sie berief sich auf das Effektivitätsgebot des Unionsrechts und das Urteil Litdana (EuGH, C‑624/15), wonach der gutgläubige Erwerb differenzbesteuerter Gegenstände auch dann zu schützen sei, wenn sich die Anwendung objektiv als fehlerhaft erweist. Der BFH legte daraufhin mit Beschluss vom 19. Februar 2025 (Az. XI R 23/24) dem EuGH die Frage vor, ob es unionsrechtskonform ist, den Vertrauensschutz ausschließlich im Billigkeitsverfahren und nicht schon im Steuerfestsetzungsverfahren zu prüfen.


Auswirkungen der Vorlage

Die Entscheidung des EuGH wird über den Einzelfall hinaus Auswirkungen auf das deutsche Steuerverfahrensrecht insgesamt haben. Die Vorlage betrifft insbesondere die Frage, ob die – in Deutschland bestehende – strikte Trennung zwischen Steuerfestsetzung und Billigkeitsverfahren mit dem Unionsrecht vereinbar ist, wenn sie zu einem unzumutbaren Rechtsschutzdefizit führt.

Der BFH beschreibt eindrücklich die Folgen dieser Trennung:

  • Doppelbelastung mit Kosten und Verfahren: Der Steuerpflichtige muss zwei separate Verwaltungs- und ggf. Gerichtsverfahren durchlaufen.

  • Verzögerung des Rechtsschutzes: Zwischen der ersten Bescheidung und einer eventuellen Billigkeitsmaßnahme können Jahre liegen.

  • Unterschiedliche Maßstäbe: Während das Steuerfestsetzungsverfahren dem Amtsermittlungsgrundsatz unterliegt, beruht das Billigkeitsverfahren auf Ermessen.

  • Fehlender einstweiliger Rechtsschutz: Im Billigkeitsverfahren ist kein vorläufiger Rechtsschutz durch Aussetzung der Vollziehung möglich; nur eine einstweilige Anordnung nach § 114 FGO, mit höheren Hürden, ist zulässig.

Zentrale Kritik des BFH: Der Verweis auf ein gesondertes Verfahren zur Geltendmachung des Vertrauensschutzes führt zu einer unverhältnismäßigen Erschwerung der Geltendmachung unionsrechtlich garantierter Rechte und könnte daher gegen das Effektivitätsgebot verstoßen.


Bedeutung für die Beurteilung der Verfahrenslänge in Steuer- und Gerichtsverfahren

Der Vorlagebeschluss liefert ein bemerkenswertes Beispiel dafür, wie sich verfahrensrechtliche Strukturentscheidungen auf die Gesamtdauer eines Steuerverfahrens auswirken – und das sowohl verwaltungs- als auch finanzgerichtlich. Er zeigt:

  1. Verfahrensdauer als unionsrechtlich relevantes Kriterium: Die Länge eines Verfahrens kann nicht allein mit innerstaatlichen Verwaltungsvorgaben gerechtfertigt werden, wenn sie die Rechtsverfolgung im Ergebnis faktisch vereitelt oder übermäßig erschwert.

  2. Verfahrenstrennung als Verlängerungsfaktor: Die Trennung von Festsetzungs- und Billigkeitsverfahren führt typischerweise zu einer Verdopplung der Verfahrensdauer, insbesondere wenn erst ein Urteil im Hauptverfahren abgewartet wird, bevor die Billigkeitsfrage geprüft wird.

  3. Effektivitätsgebot als Kontrollmaßstab: Gerichte müssen künftig bei strukturell angelegten Verfahrensverzögerungen prüfen, ob diese mit den unionsrechtlichen Anforderungen an fairen und effektiven Rechtsschutz vereinbar sind.

  4. Dogmatische Bruchstellen: Das nationale Steuerverfahrensrecht privilegiert formale Rechtmäßigkeit gegenüber materieller Gerechtigkeit im Einzelfall. Dies steht im Spannungsverhältnis zum unionsrechtlich geprägten Effektivitäts- und Äquivalenzgebot.


Die Vorlage XI R 23/24 des BFH ist mehr als eine steuerliche Detailfrage – sie stellt grundsätzliche verfahrensrechtliche Weichen. Sollte der EuGH der Sichtweise des BFH folgen, müsste das deutsche Steuerverfahrensrecht Vertrauensschutz künftig bereits im Festsetzungsverfahren berücksichtigen. Das hätte nicht nur praktische Folgen für das Umsatzsteuerrecht, sondern würde den Druck auf eine verfahrensökonomischere und einzelfallgerechtere Ausgestaltung des Steuerverfahrens erhöhen.

Die Entscheidung wird damit auch ein Maßstab für die gerichtliche Bewertung der Zumutbarkeit von Verfahrenslängen in der Steuerpraxis insgesamt.

 


Dauer gerichtlicher Verfahren in Deutschland – gegliedert nach Gerichtsbarkeit und Instanz.

Die Zahlen basieren auf den aktuellen Statistiken der Justiz (z. B. „Geschäftsstatistik der Justiz“ des BMJ, Stand ca. 2023/2024) sowie Praxiserfahrungen. Es handelt sich um Durchschnittswerte – Einzelfälle können erheblich abweichen.


⚖️ 1. Zivilgerichtsbarkeit

Instanz Durchschnittliche Verfahrensdauer
Amtsgericht (Zivil) ca. 6 – 9 Monate
Landgericht (1. Instanz) ca. 9 – 15 Monate
Landgericht (Berufung) ca. 10 – 18 Monate
Oberlandesgericht (Revision) ca. 12 – 24 Monate
BGH (Zivilsenat) ca. 12 – 24 Monate

Längere Verfahren v. a. bei komplexen Beweisaufnahmen, Gutachten oder internationalem Bezug.


⚖️ 2. Strafgerichtsbarkeit

Instanz Durchschnittliche Verfahrensdauer
Amtsgericht (Strafsachen) ca. 3 – 8 Monate
Landgericht (kleine/mittlere Sachen) ca. 6 – 12 Monate
Schwurgericht / Wirtschaftssachen ca. 12 – 36 Monate
OLG (Revision) ca. 6 – 12 Monate
BGH (Strafsenat) ca. 6 – 18 Monate

Haftverfahren werden regelmäßig beschleunigt behandelt.


⚖️ 3. Verwaltungsgerichtsbarkeit

Instanz Durchschnittliche Verfahrensdauer
Verwaltungsgericht (VG) ca. 12 – 24 Monate
Oberverwaltungsgericht (OVG) ca. 12 – 30 Monate
Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) ca. 18 – 36 Monate

Besonders langwierig: Bau-, Asyl- und Umweltrecht.


⚖️ 4. Finanzgerichtsbarkeit

Instanz Durchschnittliche Verfahrensdauer
Finanzgericht ca. 18 – 36 Monate
BFH ca. 12 – 24 Monate

Komplexe steuerliche Fragen (z. B. Umsatzsteuer, internationales Steuerrecht) ziehen Verfahren in die Länge. Die Vorlage an den EuGH kann die Verfahrensdauer um 2 – 5 Jahre verlängern.


⚖️ 5. Sozialgerichtsbarkeit

Instanz Durchschnittliche Verfahrensdauer
Sozialgericht ca. 12 – 24 Monate
Landessozialgericht (Berufung) ca. 18 – 30 Monate
BSG ca. 24 – 36 Monate

Häufig verzögert durch lange Wartezeiten auf medizinische Gutachten.


⚖️ 6. Arbeitsgerichtsbarkeit

Instanz Durchschnittliche Verfahrensdauer
Arbeitsgericht ca. 3 – 6 Monate
Landesarbeitsgericht ca. 6 – 12 Monate
Bundesarbeitsgericht ca. 12 – 18 Monate

Kündigungsschutzverfahren sind meist besonders zeitkritisch und werden zügig terminiert.

 


Was bedeuten die dargestellten Verfahrensdauern für die Rechtswegerschöpfung und den Zeitaufwand bei einer Verfassungsbeschwerde


1. Begriff der Rechtswegerschöpfung (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 2 BVerfGG)

Bevor eine Verfassungsbeschwerde erhoben werden kann, müssen alle fachgerichtlichen Wege erschöpft sein – also der gesamte Rechtsweg mit allen zulässigen Rechtsmitteln und Rechtsbehelfen vollständig durchlaufen sein (z. B. Klage → Berufung → Revision oder Nichtzulassungsbeschwerde).

Ausnahme: Wenn ein einfachrechtlicher Weg offensichtlich aussichtslos oder unzumutbar ist, kann im Ausnahmefall auch ohne vollständige Rechtswegerschöpfung eine Verfassungsbeschwerde zulässig sein (enge Auslegung!).


2. Zeitlicher Gesamtaufwand bis zur Verfassungsbeschwerde

Wenn man die Verfahren vollständig durchläuft, ergeben sich in der Regel folgende Zeiträume bis zur Einlegung einer zulässigen Verfassungsbeschwerde:

Gerichtsbarkeit Geschätzte Dauer bis zur VB (alle Instanzen)
Zivilrecht (inkl. BGH) 3–6 Jahre
Strafsachen (mit Revision) 2–5 Jahre
Verwaltungsrecht 4–8 Jahre
Finanzrecht (mit EuGH-Vorlage) 5–10 Jahre (!), bei EuGH-Vorlage länger
Sozialrecht 3–7 Jahre
Arbeitsrecht 2–4 Jahre

Beachte: Verfassungsbeschwerde muss innerhalb von 1 Monat nach Zustellung der letztinstanzlichen Entscheidung eingelegt werden (§ 93 Abs. 1 S. 1 BVerfGG).


3. Bedeutung für Grundrechtsschutz und Effektivität des Rechtsschutzes

a) Langer Rechtsweg = Verzögerter Grundrechtsschutz

Ein faktischer Grundrechtsschutz durch das BVerfG ist oft erst Jahre nach dem Grundrechtseingriff möglich. Das gilt selbst bei besonders grundrechtssensiblen Bereichen wie Eigentum, Berufs- oder Meinungsfreiheit.

b) Verzögerung kann Grundrechtsschutz vereiteln

Insbesondere bei wirtschaftlich irreversiblen Folgen (z. B. Steuerzahlungen, Insolvenzen, Enteignungen) wird durch die lange Dauer der Instanzen der effektive Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) gefährdet.

c) Vorläufiger Rechtsschutz (§ 32 BVerfGG)

Um unzumutbare Folgen vor endgültiger Entscheidung abzufedern, kann das BVerfG im Einzelfall durch einstweilige Anordnung handeln – aber nur in extremen Ausnahmefällen und unter hohen Voraussetzungen (drohender schwerer Nachteil, Erfolgsaussicht der Hauptsache).


4. Rechtspolitisches Fazit

  • Die Pflicht zur Rechtswegerschöpfung schützt die Fachgerichtsbarkeit – führt aber in der Praxis bei komplexen oder mehrstufigen Verfahren zu 5 bis 10 Jahren Verzögerung des verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes.

  • Verfahrenstrennung (wie z. B. zwischen Steuerfestsetzung und Billigkeit) oder Auslandsbezüge (EuGH-Vorlagen) verlängern den Zeitraum nochmals erheblich.

  • Damit entsteht ein strukturelles Problem für die Wahrung grundrechtlicher Effektivität bei zeitkritischen Fallkonstellationen.

 

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