15 Euro Mindestlohn – Notfalls per Gesetz?

Tagesschau.de vom 23.4.2025
Ein juristisch-ökonomischer Kommentar zur aktuellen Mindestlohndebatte
I. Ausgangspunkt: Die politische Zuspitzung
Mit der Forderung nach einem gesetzlichen Eingriff zur Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 15 Euro pro Stunde entfacht SPD-Generalsekretär Matthias Miersch eine alte Debatte neu: Wie unabhängig darf – oder soll – die Mindestlohnkommission arbeiten, wenn politischer Gestaltungswille auf wirtschaftliche Abwägung trifft? Die CDU lehnt ein gesetzliches Eingreifen strikt ab und verweist auf die vereinbarte Unabhängigkeit der Kommission. Der Koalitionsvertrag zwischen CDU und SPD sieht eine Zielmarke von 15 Euro im Jahr 2026 lediglich als „erreichbar“, nicht als fest zugesagt an. Diese Unschärfe öffnet nun den Raum für politische Interpretation – und juristische Diskussion.
II. Die Mindestlohnkommission und ihre gesetzliche Grundlage
Nach § 9 Abs. 1 MiLoG (Mindestlohngesetz) ist die Mindestlohnkommission ein paritätisch besetztes Gremium aus je drei Vertreterinnen und Vertretern der Spitzenorganisationen von Arbeitgebern und Gewerkschaften sowie einem neutralen Vorsitz. Sie gibt Empfehlungen zur Anpassung des Mindestlohns unter Berücksichtigung der Tarifentwicklung. Die Politik ist ausdrücklich nicht Teil dieses Gremiums. Die gesetzliche Konstruktion zielt auf eine depolitisierte Lohnfindung im unteren Lohnsegment und orientiert sich am Prinzip der Tarifautonomie, das in Art. 9 Abs. 3 GG grundrechtlich geschützt ist.
III. Der politische Hebel: Gesetzgebungskompetenz vs. Kommissionsautonomie
Formaljuristisch steht es dem Gesetzgeber jederzeit frei, per Gesetz eine Mindestlohnhöhe festzulegen – selbst gegen eine Empfehlung oder ohne Vorschlag der Kommission. Das zeigt die Anhebung auf 12 Euro im Jahr 2022, die unter der Ampelregierung erfolgte. Juristisch betrachtet handelt es sich dabei nicht um eine Kompetenzüberschreitung, sondern um die Ausübung des gesetzgeberischen Ermessens. Politisch jedoch stellt sich die Frage nach der Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit der zugesagten „Unabhängigkeit“ der Kommission.
Ein gesetzliches Eingreifen nach Ablehnung durch die Kommission würde die institutionelle Rolle dieser Kommission – und mittelbar das Vertrauen in das bestehende Verfahren – erheblich beschädigen. Die Signalwirkung in Richtung Sozialpartner wäre verheerend: Warum verhandeln, wenn am Ende doch der Gesetzgeber entscheidet?
IV. Ökonomische Implikationen einer gesetzlichen Anhebung
Eine Erhöhung des Mindestlohns auf 15 Euro pro Stunde hätte unterschiedliche ökonomische Effekte, abhängig von Branche, Region und Beschäftigtenstruktur. Befürworter argumentieren mit Kaufkraftstärkung, Armutsprävention und dem Schließen von Gerechtigkeitslücken. Kritiker hingegen verweisen auf Arbeitsplatzverluste in niedrigmargigen Branchen, eine mögliche Beschleunigung von Automatisierung sowie auf Preissteigerungen, insbesondere im Dienstleistungssektor.
Studien zeigen: Während moderate Mindestlohnerhöhungen (wie die bisherigen Anhebungen) nur begrenzte negative Beschäftigungseffekte hatten, könnten starke Sprünge – insbesondere ohne wirtschaftliche Rückbindung – Risiken bergen. Eine starre gesetzliche Festsetzung auf 15 Euro ohne Rücksicht auf gesamtwirtschaftliche Kennzahlen oder Tariflohndynamiken birgt die Gefahr eines politisch motivierten Mindestlohns, der sich von ökonomischer Tragfähigkeit entkoppelt.
V. Verfassungsrechtliche Aspekte: Schranken der Lohnpolitik
Verfassungsrechtlich steht die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns auf einem sicheren Fundament (BVerfG, Beschluss vom 25.01.2017 – 1 BvR 1571/15). Jedoch gilt dies nur, solange die Maßnahme verhältnismäßig bleibt. Eine gesetzgeberische Anhebung, die die Tarifautonomie aushebelt, müsste sich an Art. 9 Abs. 3 GG messen lassen. Ein Mindestlohn darf nicht als Ersatz für eine flächendeckende Tarifbindung dienen, sondern soll dort absichern, wo tarifliche Regelungen fehlen. Die gesetzliche Festsetzung eines konkreten Lohnniveaus ohne Rückbindung an wirtschaftliche Daten könnte hier zu einem Spannungsverhältnis führen.
VI. Symbolpolitik oder sozialstaatliche Notwendigkeit?
Die politische Debatte um den 15-Euro-Mindestlohn spiegelt die soziale Realität in Deutschland wider: steigende Lebenshaltungskosten, geringe Tarifbindung im Niedriglohnbereich und wachsender Druck auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Gleichwohl ist die Mindestlohnkommission kein Feigenblatt, sondern ein konstitutioneller Pfeiler sozialpartnerschaftlicher Ordnung.
Ein gesetzgeberisches Eingreifen wäre möglich, aber nicht ohne Preis: Es gefährdet die Glaubwürdigkeit der Kommission, schwächt die Rolle der Tarifparteien und birgt ökonomische wie verfassungsrechtliche Risiken. Die SPD riskiert hier viel, um ein soziales Signal zu senden. Ob dies im Sinne einer nachhaltigen Arbeitsmarktpolitik klug ist, bleibt zweifelhaft.
Empfehlung an die Politik: Wenn die Zielmarke von 15 Euro als sozialpolitisch notwendig erachtet wird, sollte sie über eine Reform des MiLoG mit klaren Kriterien und ökonomischer Rückbindung erfolgen – nicht durch punktuelle Intervention unter Missachtung der institutionellen Architektur des Arbeitsrechts.
In der Europäischen Union verfügen 22 der 27 Mitgliedstaaten über gesetzlich festgelegte Mindestlöhne. Die Höhe dieser Mindestlöhne variiert erheblich zwischen den Ländern.
Land | Mindestlohn (€/Std.) | Mindestlohn (€/Monat) | Bemerkungen |
---|---|---|---|
Luxemburg | 15,25 € | 2.638 € | Höchster Mindestlohn in der EU citeturn0search0 |
Irland | 13,50 € | 2.282 € | |
Niederlande | 14,06 € | 2.193 € | |
Deutschland | 12,82 € | 2.222 € | |
Belgien | 12,83 € | 2.070 € | |
Frankreich | 11,88 € | 1.802 € | |
Spanien | 8,37 € | 1.381 € | |
Slowenien | 7,39 € | 1.278 € | |
Polen | 7,08 € | 1.280 € | |
Litauen | 6,35 € | 1.000 € | |
Zypern | 6,06 € | 1.000 € | Mindestlohn eingeführt am 1. Januar 2023 |
Portugal | 6,01 € | 1.015 € | |
Kroatien | 5,61 € | 970 € | |
Griechenland | 5,60 € | 1.026,60 € | |
Malta | 5,54 € | 1.000 € | |
Estland | 5,31 € | 886 € | |
Tschechien | 4,95 € | 823 € | |
Rumänien | 4,87 € | 814 € | |
Slowakei | 4,69 € | 800 € | |
Lettland | 4,38 € | 700 € | |
Ungarn | 4,23 € | 773,90 € | |
Bulgarien | 3,32 € | 551 € | Niedrigster Mindestlohn in der EU |
In fünf EU-Mitgliedstaaten – Dänemark, Italien, Österreich, Finnland und Schweden – existiert kein gesetzlicher Mindestlohn. Stattdessen werden dort Löhne überwiegend durch Tarifverträge geregelt, wobei die Tarifbindung in diesen Ländern besonders hoch ist.
Die EU-Mindestlohnrichtlinie (Richtlinie (EU) 2022/2041) empfiehlt, dass gesetzliche Mindestlöhne mindestens 60 % des nationalen Bruttomedianlohns betragen sollten. Diese Richtlinie wurde am 19. Oktober 2022 verabschiedet und trat im November 2024 in Kraft. Sie verpflichtet die Mitgliedstaaten, Kriterien für die Festlegung angemessener Mindestlöhne zu definieren und diese regelmäßig zu überprüfen.
Es ist wichtig zu beachten, dass die Umsetzung dieser Richtlinie in nationales Recht den Mitgliedstaaten obliegt und die tatsächliche Höhe des Mindestlohns weiterhin national festgelegt wird.
Das Leistungsprinzip ist ein zentrales ordnungspolitisches Leitbild der sozialen Marktwirtschaft. Es besagt, dass Einkommen und gesellschaftlicher Status im Wesentlichen an individuelle Leistung gekoppelt sein sollen. Die Einführung und Erhöhung eines gesetzlichen Mindestlohns berührt dieses Prinzip in mehrfacher Hinsicht – sowohl fördernd als auch begrenzt.
Mindestlohn als Ausdruck sozialstaatlicher Korrektivfunktion
Das Leistungsprinzip wird in der Realität durch strukturelle Ungleichheiten (Bildung, Herkunft, Zugang zum Arbeitsmarkt) relativiert. Der Mindestlohn fungiert in diesem Kontext als soziales Sicherungsinstrument, das sicherstellt, dass auch einfache Arbeit nicht unter ein bestimmtes Entlohnungsniveau fällt. Damit wird anerkannt, dass jede legale, sozialversicherungspflichtige Arbeit eine gesellschaftliche Leistung darstellt, die eine gewisse Mindestvergütung verdient – unabhängig vom Marktwert.
→ Konformität mit dem Leistungsprinzip: Der Mindestlohn honoriert grundlegende Arbeitsbereitschaft und -leistung. Er schützt Arbeit vor Entwertung, was im Sinne des erweiterten Leistungsbegriffs („wer arbeitet, soll davon leben können“) steht.
Spannungsverhältnis zur Differenzierung nach individueller Leistung
Das Leistungsprinzip fordert aber nicht nur Mindeststandards, sondern Leistungsdifferenzierung: Wer mehr oder besser arbeitet, soll auch mehr verdienen. Ein gesetzlicher Mindestlohn setzt jedoch einen einheitlichen Sockel, der sich nicht an individueller Produktivität, Erfahrung oder Qualität orientiert, sondern politisch bzw. kommissionsbasiert festgelegt wird.
→ Grenze des Leistungsprinzips: Der Mindestlohn nivelliert Unterschiede im unteren Lohnsegment. Ein Arbeitnehmer mit höherer Leistung innerhalb eines Niedriglohnsektors erhält unter Umständen denselben Lohn wie ein leistungsschwächerer Kollege. Dies kann die Anreizwirkung zur Leistungssteigerung schwächen.
Mindestlohn und Produktivität
Ökonomisch ist das Leistungsprinzip eng mit dem Marginalprodukt der Arbeit verknüpft: Der Lohn soll der Grenzproduktivität des Arbeitnehmers entsprechen. Der gesetzliche Mindestlohn durchbricht diesen Zusammenhang, sofern die Produktivität des Arbeitnehmers unterhalb des Mindestlohns liegt – etwa bei gering Qualifizierten oder Jugendlichen.
→ Risiko: In solchen Fällen kann ein Mindestlohn beschäftigungshemmend wirken, da die betroffenen Personen aus dem Arbeitsmarkt verdrängt werden, obwohl sie arbeitsbereit sind. Das Leistungsprinzip würde gebrochen, da Leistungswille nicht in Beschäftigung umgesetzt werden kann.
Gerechtigkeitsaspekte und ergänzende Maßnahmen
Ein Mindestlohn kann das Leistungsprinzip stärken, wenn er Teil eines umfassenden Systems ist:
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Qualifikationsanreize durch Bildung und Aufstiegsmöglichkeiten (Leistungslohnperspektive).
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Tarifautonome Differenzierung oberhalb des Mindestlohns (leistungsgerechte Verteilung).
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Negative Einkommensteuer / Bürgergeldreform, um Erwerbsarbeit stärker zu belohnen (Netto-Leistungsanreiz).