BVerfG: Besoldung der Berliner Landesbeamten (Besoldungsordnung A) im Zeitraum 2008 bis 2020 weit überwiegend verfassungswidrig
Zur Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts
Zusammenfassung des Beschlusses vom 17.09.2025 (2 BvL 20/17 u.a.)
I. Gegenstand und Anlass der Entscheidung
Mehrere Verwaltungsgerichte (OVG Berlin-Brandenburg und BVerwG) legten dem Bundesverfassungsgericht zahlreiche Normen des Berliner Besoldungsrechts aus den Jahren 2008 bis 2020 zur Prüfung vor. Die Betroffenen rügten, ihre Besoldung nach den Besoldungsgruppen A 7, A 8, A 9, A 10, A 11 und A 12 sei nicht amtsangemessen i.S.v. Art. 33 Abs. 5 GG.
Das BVerfG verband die Verfahren, weil sie dieselbe grundsätzliche Frage betreffen.
II. Maßstäbe der verfassungsrechtlichen Kontrolle
Der Beschluss stellt die maßgeblichen Prüfungsmaßstäbe neu und fortentwickelt dar:
1. Alimentationsprinzip (Art. 33 Abs. 5 GG)
Der Dienstherr ist verpflichtet, Beamten und ihren Familien einen amtsangemessenen Lebensunterhalt zu gewähren.
Dies dient insbesondere:
-
Sicherung der Unabhängigkeit der Beamten
-
Gewährleistung einer funktionsfähigen, rechtsstaatlichen Verwaltung
-
Absicherung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung
2. Dreistufiges Prüfprogramm
(1) Mindestbesoldung – neue Schwelle: 80 % des Median-Äquivalenzeinkommens
Die Besoldung ist verfassungswidrig, wenn sie unter die Schwelle von 80 % des Medianäquivalenzeinkommens fällt.
→ Diese sog. „Prekaritätsschwelle“ ersetzt die frühere Orientierung am Grundsicherungsniveau.
Liegt eine Unterschreitung vor, endet die Prüfung sofort: Verstoß gegen Art. 33 Abs. 5 GG.
(2) Fortschreibungsprüfung – zweistufig
Wenn die Mindestschwelle erreicht ist:
Stufe 1: Prüfung nach vier Parametern
-
Tariflohnindex
-
Nominallohnindex
-
Verbraucherpreisindex
-
Systeminterner Besoldungsvergleich (Abstandsgebot)
Abweichungen > 5 % sind Indizien für Evidenz der Unteralimentation.
Stufe 2: Gesamtabwägung
-
Erfüllung von mindestens zwei Parametern → Vermutung einer Unteralimentation
-
Erfüllung keines Parameters → Vermutung der Verfassungsmäßigkeit
-
Ein Parameter → vertiefte Würdigung erforderlich
(3) Ggf. Rechtfertigungsprüfung
Wenn ein Verstoß vorliegt, ist zu prüfen, ob er ausnahmsweise verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Das ist nur in eng begrenzten Fällen möglich (z.B. außergewöhnliche Haushaltsnotlagen).
III. Anwendung der Maßstäbe auf das Berliner Besoldungsrecht 2008–2020
Das Gericht durchleuchtet sämtliche Berliner Besoldungsgesetze und Übergangsregelungen (insgesamt mehrere Dutzend Anpassungsgesetze und Überleitungsvorschriften).
Ergebnis: Umfassende Verfassungswidrigkeit
Das BVerfG stellt fest:
-
In nahezu allen geprüften Jahren zwischen 2008 und 2020 war die Berliner A-Besoldung evident unzureichend.
-
Grund:
-
fortlaufende reale Entwertung der Besoldung,
-
deutliche Abweichungen von Tarif- und Lohnentwicklung,
-
Verletzung des Abstandsgebots,
-
Unterschreitung der Mindestbesoldung insbesondere in den unteren Besoldungsgruppen.
-
Ausnahmen:
Verfassungsgemäß waren lediglich einzelne Jahre und einzelne Besoldungsgruppen, insbesondere:
-
Teile der Besoldungsgruppen A 14 und A 15 ab 2016 bzw. 2017/2020,
wo der Berliner Gesetzgeber spürbare Anpassungen vorgenommen hatte.
IV. Tenor des Beschlusses
1. Unvereinbarkeit mit Art. 33 Abs. 5 GG
Das BVerfG erklärt sämtliche beanstandeten Berliner Besoldungsnormen für unvereinbar mit dem Grundgesetz, soweit sie die BesGr A 7 bis A 12 in den Jahren 2008–2020 betreffen.
2. Nochmalige Konkretisierung:
-
Berlin hat über viele Jahre hinweg systematisch und evident gegen das Alimentationsprinzip verstoßen.
-
Das gilt sowohl unter der Mindestbesoldungsprüfung als auch unter der Fortschreibungsprüfung.
3. Gesetzgeberische Frist
Der Berliner Gesetzgeber wird verpflichtet, bis zum 31. März 2027 eine Neuregelung zu treffen.
V. Weitere Kernaussagen von grundsätzlicher Bedeutung
-
Ausweitung des Prüfungsgegenstands:
Das BVerfG nutzt seine Befriedungsfunktion und erweitert die Prüfung über den eigentlichen Vorlagezeitraum und Vorlagegegenstand hinaus. -
Einschränkung prozeduraler Anforderungen:
Die frühere Rechtsprechung, die formelle Anforderungen an die Gesetzesbegründung stellte, wird zugunsten einer materiellen Darlegungslast des Dienstherrn aufgegeben. -
Bedeutung der Rechtsprechung des EGMR:
Beamten muss eine effektive gerichtliche Durchsetzungsmöglichkeit ihres Anspruchs eröffnet sein, da ihnen das Streikrecht fehlt. -
Mindestabstand zu realem Armutsrisiko:
Die Alimentationsgarantie schützt vor ökonomischer Prekarisierung, nicht nur vor absoluter Armut.
VI. Tragweite der Entscheidung
Der Beschluss hat erhebliche bundesweite Bedeutung:
-
Er verändert die dogmatischen Leitplanken der Besoldungsprüfung.
-
Die Länder müssen künftig eine Mindestbesoldung von 80 % des Medianäquivalenzeinkommens gewährleisten.
-
Besoldungsgesetze müssen deutlich systematischer und datenbasiert begründet werden.
-
Rückwirkung: Beamte mit offenen Verfahren können ggf. Nachzahlungen verlangen.
Bedeutung für Schleswig-Holstein
1. Schleswig-Holstein ist einer der problematischsten Fälle bundesweit
SH gehört seit Jahren – wie Berlin – zu den Ländern mit den niedrigsten realen Beamtengehältern:
-
Unterdurchschnittliche Grundgehaltssätze
-
Hohe regionale Preisentwicklung
-
Fortlaufende reale Kaufkraftverluste
-
Mehrjährige Abkopplung von der Tarifentwicklung des öffentlichen Dienstes
Politisch wurde dies wiederholt eingeräumt (auch vom Landesrechnungshof).
Damit liegt SH im Kernbereich der vom BVerfG kritisierten Praxis:
strukturelle Unteralimentation, langjährige Nichtfortschreibung, verfassungssystematische Erosion des Abstandsgebots.
2. Unmittelbare Relevanz der 80-%-Mindestschwelle
Für SH ist vor allem entscheidend:
-
Die untersten Besoldungsgruppen (A 6 bis A 8) liegen – nach allen verfügbaren Daten – unter oder nahe an der 80-%-Schwelle des Median-Äquivalenzeinkommens SH.
Die 80-%-Schwelle des Median-Äquivalenzeinkommens markiert die verfassungsrechtlich zwingende Mindesthöhe einer beamtenrechtlichen Alimentation.
Jede Unterschreitung dieser Schwelle führt ohne weitere Prüfung zur Evidenz der Unteralimentation und damit zur Verletzung von Art. 33 Abs. 5 GG.
-
Die höheren Lebenshaltungskosten (insbesondere in Kiel, Lübeck, Umland Hamburg) verschärfen die Lage.
-
SH gewährt keine systematische strukturelle Kompensation (wie Hauptstadtzulage Berlin).
Damit ist hoch wahrscheinlich, dass die Mindestbesoldung in SH bereits heute verfassungswidrig unterschritten wird.
Das BVerfG verlangt in einem solchen Fall keine weitere Prüfung.
→ Automatischer Verstoß gegen Art. 33 Abs. 5 GG.
3. Fortschreibungsprüfung spricht ebenfalls gegen SH
Auch die vier Parameter der Fortschreibungsprüfung fallen für SH schlecht aus:
-
Tariflohnindex: SH hat in mehreren Jahren Besoldungserhöhungen unterhalb des Tarifbereichs vorgenommen.
-
Nominallohnindex: Abstand wächst.
-
Verbraucherpreisindex: Preissteigerung >> Besoldungssteigerungen.
-
Abstandsgebot: Insbesondere zwischen A 6/A 7 und mittleren Gruppen sind die Abstände im Laufe der letzten 10 Jahre erkennbar erodiert.
Damit sind mindestens zwei Parameter erfüllt → Vermutung der Verfassungswidrigkeit.
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Schleswig vom 11.11.2025
Kernaussage des VG Schleswig
Das VG Schleswig hat am 11.11.2025 entschieden:
-
Die Besoldung in SH entspricht nicht Art. 33 Abs. 5 GG.
-
Verfahren von Beamten werden nicht weiter betrieben, sondern „ruhend gestellt“, bis der Gesetzgeber eine Anpassung vornimmt.
Die Finanzministerin hat dies öffentlich bestätigt und ein landesweites Ruhen angekündigt.
Zusammenspiel BVerfG-Beschluss / VG Schleswig
Der BVerfG-Beschluss ist für Schleswig-Holstein „vorweggenommene Rechtsprechung“
Obwohl der Beschluss ein reines Berliner Verfahren betrifft, gelten die dort entwickelten Maßstäbe bundesweit, weil:
-
Art. 33 Abs. 5 GG bundesweit gilt.
-
Das Prüfprogramm ist ab sofort verbindlich für alle Ländergerichte.
-
Landesgesetzgeber müssen nach diesen Maßstäben handeln.
Politisch-administrative Konsequenz für SH
-
SH muss – wie Berlin – eine umfassende strukturelle Besoldungsreform vornehmen.
-
Eine lineare Erhöhung reicht nicht aus, da das BVerfG ausdrücklich strukturelle Anpassung fordert.
SH müsste, um die neue Mindestschwelle und Fortschreibungsparameter einzuhalten:
-
Die unteren Besoldungsgruppen deutlich anheben
-
Abstände zwischen A 7/A 8 und A 9/A 10 wiederherstellen
-
Preisentwicklung der letzten Jahre nachholen
-
Miet- und Lebenshaltungskostenfaktor berücksichtigen (modellhaft wie Hauptstadtzulage)
Das Volumen wird für SH mehrere hundert Millionen Euro pro Jahr betragen.
Was ist das Median-Äquivalenzeinkommen?
Das Median-Äquivalenzeinkommen ist eine haushaltsbereinigte Maßzahl für das verfügbare Einkommen, die in der gesamten EU und in Deutschland zur Messung von Armut und Verteilungslagen verwendet wird.
Es basiert auf:
-
dem Nettoeinkommen eines Haushalts,
-
geteilt durch die Äquivalenzskala (OECD-modifiziert), um Unterschiede in Haushaltsgrößen auszugleichen.
Die Äquivalenzskala gewichtet:
-
erste erwachsene Person: 1,0
-
weitere erwachsene Personen: 0,5
-
Kinder < 14 Jahre: 0,3
Aus all diesen gewichteten Pro-Kopf-Nettoeinkommen wird der Medianwert aller Haushalte berechnet.
Dieser Median ist der zentrale statistische Referenzwert der Einkommensverteilung – die Hälfte der Bevölkerung liegt darüber, die Hälfte darunter.
Was ist die 80-%-Schwelle?
Die 80-%-Schwelle bedeutet:
Ein Beamtenhaushalt muss mindestens 80 % des Median-Äquivalenzeinkommens (bezogen auf den jeweiligen Haushaltstyp) erreichen.
Wird diese Schwelle unterschritten, liegt automatisch ein Verstoß gegen Art. 33 Abs. 5 GG (Alimentationsprinzip) vor.
Das Bundesverfassungsgericht hat diese Schwelle festgelegt, um den Schutz vor Prekarität sicherzustellen.
Warum 80 %?
Unterhalb dieser Grenze besteht nach europäisch vereinheitlichten Armutsdefinitionen ein „erhebliches reales Armutsrisiko“.
Beamte müssen – weil sie nicht streiken dürfen – durch das Alimentationsprinzip existenziell abgesichert sein.
Das Gericht nennt dies:
„Freiheit von existenziellen finanziellen Sorgen“ (Rn. im Beschluss vom 17.09.2025).
Wie wird die Schwelle berechnet?
Maßgeblich ist nicht das Beamteneinkommen als solches, sondern das Gesamteinkommen eines Beamtenhaushalts nach allen Abzügen und inkl. Familienzuschlägen.
Beispiele:
-
Alleinstehender Beamter:
Mindestbesoldung = 0,8 × Medianwert für einen 1-Personen-Haushalt. -
Beamter mit Ehepartner und 2 Kindern:
Haushaltsgewicht = 1 + 0,5 + 0,3 + 0,3 = 2,1
Mindestbesoldung = 0,8 × Median-Äquivalenzeinkommen × 2,1
Damit ist die 80-%-Schwelle haushalts- und familienbezogen, nicht pauschal.
Bedeutung für Besoldungsgesetze
a) Überschreitung → verfassungsrechtlich unauffällig
Nach der 80 %-Schwelle liegt das Einkommen über dem Prekaritätsniveau.
b) Unterschreitung → automatisch verfassungswidrig
Das BVerfG sagt ausdrücklich:
-
Bei Unterschreiten der 80-%-Schwelle
→ sofort Verfassungswidrigkeit
→ keine weitere Prüfung (Fortschreibungsparameter entfallen)
→ gesetzgeberische Pflicht zur Anhebung
Diese Regel ist mathematisch eindeutig und ohne Spielraum.
Relevanz für die Beamtenbesoldung in den Ländern
Da der Median je Bundesland unterschiedlich hoch ist (z.-B. höher in Hamburg und Bayern, niedriger in Sachsen-Anhalt), führt die 80-%-Schwelle zu sehr unterschiedlichen Anforderungen an die Besoldung.
Für Länder mit niedriger Besoldung und gleichzeitig steigenden Lebenshaltungskosten (z. B. Schleswig-Holstein, Berlin, Bremen) entsteht sofortiger Anpassungsdruck.
Die neue 80-%-Schwelle des Median-Äquivalenzeinkommens ersetzt faktisch die bisherige verfassungsrechtliche Orientierung an einer 15-%-Schwelle über dem Grundsicherungsniveau.
Beide Schwellen messen etwas völlig Unterschiedliches – und die neue 80-%-Grenze liegt deutlich höher und führt damit zu einem viel strengeren Mindeststandard für die Besoldung.
Frühere Untergrenze: 15 % über Grundsicherung
Bis zum Beschluss des BVerfG vom 17.09.2025 galt als orientierende Mindestanforderung:
-
Die Nettoalimentation eines Beamtenhaushalts durfte nicht unter das Grundsicherungsniveau fallen,
-
und musste mindestens 15 % darüber liegen.
Grundlage:
-
Regelsätze der Sozialhilfe,
-
Unterkunft und Heizung,
-
damit ein Mindeststandard existenzsichernder Leistungen.
Diese Schwelle war sehr niedrig angesetzt, da sie Beamte nur knapp über dem Niveau von Bedürftigkeit hielt.
Das Gericht hatte diese Schwelle gewählt, weil die Grundsicherung als staatlich garantiertes Existenzminimum gilt – aber sie bildet keine gesellschaftliche Teilhabe ab.
Verhältnis der beiden Schwellen
| Früherer Maßstab | Neuer Maßstab |
|---|---|
| Existenzminimum + 15 % | Armutsvermeidungsniveau (80 % des gesellschaftlichen Mittels) |
| orientiert an Regelsätzen der Sozialhilfe | orientiert am mittleren Einkommen aller Haushalte |
| Sicherung des Überlebens | Sicherung gesellschaftlicher Teilhabe und Unabhängigkeit |
| extrem niedrige Schwelle | deutlich höhere Schwelle |
Fazit:
Die 80-%-Schwelle liegt weit oberhalb der alten 15-%-Grenze.
Unterschied in absoluten Zahlen
Ein vereinfachtes Beispiel (deutliche Größenordnung):
-
Grundsicherung für einen Alleinstehenden (~2025): ca. 1.100–1.200 € monatlich inkl. Miete.
→ +15 % = ca. 1.300–1.350 €. -
Median-Äquivalenzeinkommen (Deutschland, Alleinstehende): ca. 2.200–2.300 €.
→ 80 % davon = ca. 1.760–1.840 €.
Damit liegt die neue Schwelle ca. 400–550 € höher.
Je nach Haushaltstyp ist die Differenz sogar noch größer (insbesondere mit Kindern).
Bedeutung für die Praxis
-
Die 80-%-Schwelle ist erheblich höher als „15 % über Grundsicherung“.
-
Die 15-%-Grenze hat keine eigenständige verfassungsrechtliche Funktion mehr.
-
Die Prüfung wird klarer und für Beamte günstiger:
– Mathematisch eindeutig,
– keine komplizierten Grundsicherungsberechnungen mehr,
– kein behördlicher Spielraum. -
Für viele Länder bedeutet der neue Maßstab automatisch Verfassungswidrigkeit
(SH, Berlin, Bremen, teilweise Niedersachsen und Sachsen-Anhalt).
