Urteil des Landesverfassungsgerichts SH zum Haushalt 2024

Urteil des Landesverfassungsgerichts SH – Volltext
Zusammenfassung und Leitsätze
Leitsätze:
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Der Landesgesetzgeber darf nur unter strikter Einhaltung der Anforderungen des Art. 61 Abs. 3 LV SH von der grundsätzlichen Schuldenbremse abweichen. Dazu gehört insbesondere ein wirksamer und formgerechter Tilgungsplan.
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Das Parlament darf wesentliche haushaltspolitische Entscheidungen nicht auf die Exekutive übertragen. § 8 Abs. 22 Haushaltsgesetz 2024 verletzt den Grundsatz der haushaltsrechtlichen Spezialität.
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Die Feststellung einer außergewöhnlichen Notsituation durch den Landtag unterliegt der vollen verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Die gerichtliche Überprüfung beschränkt sich nicht auf Willkürkontrolle.
Einleitung
Mit Urteil vom 14. Februar 2025 (Az. LVerfG 1/24) hat das Landesverfassungsgericht Schleswig-Holstein zwei zentrale Regelungen des Haushaltsgesetzes 2024 für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Der Richterspruch markiert einen Paradigmenwechsel in der verfassungsrechtlichen Kontrolle landesrechtlicher Notlagenhaushalte. Er ist zugleich ein Echo auf das aufsehenerregende Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. November 2023 zur Bundeshaushaltspolitik. In einer zunehmend krisengeprägten Zeit, in der haushaltspolitische Notlagenregelungen zur Regel zu werden drohen, zieht das Gericht eine klare verfassungsrechtliche Grenze.
I. Ausgangslage und Gegenstand des Verfahrens
Gegenstand des Verfahrens war die verfassungsrechtliche Überprüfung von § 2 Abs. 1 Satz 1 und § 8 Abs. 22 Haushaltsgesetz 2024, welche eine Kreditermächtigung i.H.v. über 6,3 Mrd. Euro (davon rund 1,5 Mrd. Euro Notkredite) sowie weitreichende Exekutivermächtigungen zur haushaltsinternen Umwidmung von Mitteln betrafen.
Geklagt hatten die Fraktionen von SPD und FDP, gestützt auf Art. 51 Abs. 2 Nr. 2 LV i.V.m. § 39 ff. LVerfGG. Sie rügten insbesondere:
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das Fehlen einer tauglichen und konkret begründeten Notlage,
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das Fehlen eines wirksamen Tilgungsplans i.S.d. Art. 61 Abs. 3 Satz 3 LV,
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die Verletzung des haushaltsrechtlichen Spezialitätsprinzips durch § 8 Abs. 22 Haushaltsgesetz.
II. Systematik von Art. 61 LV – Schuldenbremse auf Landesebene
Art. 61 LV SH verankert eine landesverfassungsrechtliche Schuldenbremse in Anlehnung an Art. 109 Abs. 3 GG:
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Abs. 1: Grundsatz des haushaltspolitischen Ausgleichs ohne Kreditaufnahme.
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Abs. 3: Ausnahmetatbestand für Notlagen, der aber:
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Naturkatastrophen oder außergewöhnliche Notsituationen erfordert,
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sich der Kontrolle des Staates entziehen muss,
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die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen muss,
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durch Zweidrittelmehrheit des Landtags beschlossen werden muss,
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mit einem Tilgungsplan verbunden sein muss.
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Zentral für die verfassungsgerichtliche Kontrolle ist die normative Qualität dieser Voraussetzungen: Sie sind nicht bloße politische Einschätzungsprärogativen, sondern rechtlich überprüfbare Tatbestände.
III. Entscheidung des Landesverfassungsgerichts
1. Verfassungswidrigkeit der Kreditermächtigung (§ 2 Abs. 1 Satz 1 HaushaltsG 2024)
Das Gericht erklärt diese Vorschrift insoweit für nichtig, als sie eine Notkreditermächtigung enthält. Begründung:
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Keine hinreichend dargelegte außergewöhnliche Notsituation im Jahr 2024:
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Die Corona-Pandemie sei spätestens seit Ende 2023 keine akute, exogene Notlage mehr.
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Der Ukrainekrieg wirke zwar fort, verursache aber keine außergewöhnliche Belastung der Landesfinanzen in verfassungsrechtlich erheblicher Dimension.
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Die Sturmflut sei isoliert betrachtet nicht von hinreichender fiskalischer Relevanz.
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Fehlender sachlicher Veranlassungszusammenhang: Die Maßnahmepakete seien nicht hinreichend kausal und final auf die Bewältigung der Notlage bezogen. Viele Maßnahmen seien „anlässlich, nicht infolge“ der Krisen veranlasst worden.
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Tilgungsplan nicht wirksam beschlossen: Der Beschluss vom 20. März 2024 stelle keine förmliche Gesetzesänderung dar, obwohl er auf eine Änderung des Tilgungsgesetzes abziele. Es fehle an Ausfertigung und Verkündung (Art. 46 Abs. 1 LV).
2. Verfassungswidrigkeit von § 8 Abs. 22 HaushaltsG 2024
Diese Vorschrift ermächtigte das Finanzministerium, aus eigener Initiative haushaltswirksame Titel „auf Antrag der zuständigen Behörden“ zu schaffen, zu ändern oder umzuwidmen.
Das Gericht sieht hierin einen klaren Verstoß gegen Art. 58 LV SH:
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Verletzung des Grundsatzes der sachlichen Spezialität: Der Haushaltsplan verliert seine Bindungskraft, wenn eine Exekutivermächtigung haushaltsübergreifend ohne präzise Begrenzung eingeräumt wird.
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Delegationsverbot verletzt: Der Haushaltsgesetzgeber darf sich seiner Entscheidungskompetenz nicht durch generalklauselartige Übertragungen an die Exekutive entledigen. Auch die Einwilligung des Finanzausschusses ersetzt nicht die Parlamentshoheit.
IV. Verfassungsrechtliche Einordnung und bundesweite Signalwirkung
Dieses Urteil ist ein landesverfassungsrechtliches Pendant zur Karlsruher Schuldenbremse-Entscheidung vom 15.11.2023 (2 BvF 1/22), jedoch mit eigener dogmatischer Schärfe:
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Es verneint ausdrücklich eine bloß eingeschränkte Kontrolle (Willkürkontrolle) bei der Notlagenfeststellung und bezieht sich auf die vollständige Kontrollkompetenz des Verfassungsgerichts.
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Der Senat stärkt das Prinzip der haushaltspolitischen Transparenz und Präzision, indem er alle Elemente der Notlagenausnahme – einschließlich der Kausalität, der Erheblichkeit der Beeinträchtigung und der Tilgungsmodalitäten – für voll überprüfbar erklärt.
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Auch Krisenkumulationen (Polykrisen) berechtigen nicht automatisch zur Aufweichung haushaltsrechtlicher Disziplin. Der Veranlassungszusammenhang muss konkret und begründet dargelegt werden.
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Im Kontext föderaler Finanzverfassung zeigt das Urteil eine Klärung der verfassungsrechtlichen Eigenständigkeit der Länder im Rahmen der Art. 109 ff. GG – in bewusster Parallelisierung zur Bundesebene, aber mit eigenem Maßstab.
V. Konsequenzen für die künftige Haushaltspraxis
Das Urteil hat weitreichende Folgen:
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Strengere Begründungslast für Notlagenhaushalte auf Landesebene.
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Keine „Schubladennotlagen“ mehr, in denen bestehende Haushaltswünsche retrospektiv mit Krisen legitimiert werden.
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Tilgungspläne müssen gesetzlich fixiert und nach Art. 46 LV wirksam beschlossen werden.
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Keine faktische Haushaltsautonomie der Exekutive durch generalklauselartige Bewirtschaftungsvorbehalte.
VI. Einordnung
Das Urteil des Landesverfassungsgerichts Schleswig-Holstein ist ein juristisch fein austariertes Bollwerk gegen haushaltspolitische Selbstermächtigung und Notlageninflation. Es setzt klare Maßstäbe für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Notkreditaufnahmen und mahnt eine verantwortungsvolle Haushaltsführung im Zeichen demokratischer Legitimation und rechtlicher Bindung an. Für künftige Haushaltsgesetzgeber – im Norden wie im Bund – ist es zugleich Warnung und Wegweiser.
Aber:
Die Finanzministerin von Schleswig-Holstein hat heute angekündigt, die bestehende Finanzierungslücke im Landeshaushalt 2025 durch Nutzung der neuen Verschuldungsmöglichkeiten zu schließen, die sich aus der kürzlich beschlossenen Grundgesetzänderung ergeben. Diese Änderung erlaubt es den Bundesländern erstmals, gemeinsam Kredite in Höhe von bis zu 0,35 % des nominalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) aufzunehmen, ohne gegen die Schuldenbremse zu verstoßen.
Zusätzlich wurden im Rahmen der Grundgesetzänderung 100 Milliarden Euro aus dem neuen Sondervermögen für Infrastruktur und Klimaschutz vorgesehen, die den Ländern für Investitionen zur Verfügung gestellt werden sollen.
Die Finanzministerin plant, diese neuen Spielräume zu nutzen, um die Haushaltslücke 2025 zu schließen und gleichzeitig Investitionen in Infrastruktur und Klimaschutz zu tätigen.