Verdachtsberichterstattung

Beschluss vom 10. April 2025 – 2 BvR 468/25
Unzulässige Verfassungsbeschwerde gegen das Ausschöpfen einer Fünfmonatsfrist zur Nachreichung der Urteilsgründe gemäß § 315 Abs. 2 Satz 3 Zivilprozessordnung
Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 10. April 2025 die Verfassungsbeschwerde zweier Journalisten nicht zur Entscheidung angenommen. Diese wandten sich gegen eine einstweilige Verfügung wegen einer Berichterstattung zu mutmaßlichen Sanktionsverstößen sowie gegen die unterlassene Urteilsbegründung eines Landgerichts. Der Fall wirft grundsätzliche Fragen zum Verhältnis von Meinungsfreiheit, Justizgewährleistung und prozessualer Fairness auf.
Sachverhalt
Die Beschwerdeführer – ein Journalist und eine Verlagsgesellschaft – hatten über ein Unternehmen mit mutmaßlichen Verbindungen nach Russland berichtet. Dabei äußerten sie den Verdacht, das Unternehmen könnte für Sanktionsumgehungen beim Export westlicher Technologie genutzt worden sein. Die Berichterstattung erschien online und in einer Wochenzeitung Ende Juni 2024.
Das Landgericht Hamburg untersagte mit einstweiliger Verfügung vom 2. September 2024 die weitere Verbreitung der Aussagen. Die Verfügung begründete sich mit einer rechtswidrigen Verdachtsberichterstattung, die das Persönlichkeitsrecht des betroffenen Unternehmens verletze. Eine mündliche Verhandlung am 8. November 2024 bestätigte diese Verfügung per Urteil – jedoch ohne die Bekanntgabe der Entscheidungsgründe. Diese blieben auch nachfolgend aus.
Die Beschwerdeführer erhoben am 5. Februar 2025 Berufung und beantragten zugleich die Einstellung der Zwangsvollstreckung. Das Oberlandesgericht Hamburg lehnte dies am 11. März 2025 ab, da die Erfolgsaussichten der Berufung mangels Begründung nicht einschätzbar seien.
Verfassungsrechtliche Rügen
Die Verfassungsbeschwerde stützte sich auf folgende Grundrechtsverletzungen:
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Art. 19 Abs. 4 GG – das Recht auf effektiven Rechtsschutz sei verletzt, weil das Urteil ohne Begründung nicht angreifbar sei.
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Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG – der Grundsatz prozessualer Waffengleichheit sei verletzt worden, weil das Verfahren faktisch einseitig zulasten der Presse geführt worden sei.
Die Beschwerdeführer argumentierten, sie könnten die Berufung ohne Urteilsgründe nicht substantiiert begründen und seien so in ihrer Verteidigungsmöglichkeit unzumutbar beeinträchtigt. Zudem würde die verzögerte Begründung die Aktualität ihrer Berichterstattung entwerten.
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Das Bundesverfassungsgericht erklärte die Verfassungsbeschwerde für unzulässig. Die Richter urteilten, dass die Beschwerdeführer ihre Grundrechtsrügen nicht hinreichend substantiiert dargelegt hätten. Zwar erkenne das Gericht an, dass eine verspätete Urteilsbegründung problematisch sein könne – im konkreten Fall sei jedoch nicht ersichtlich, dass eine unzumutbare Erschwerung des Rechtsschutzes eingetreten sei.
Die zentrale Begründung: Die Berufungsfristen hatten noch nicht zu laufen begonnen, und die Antragsteller hätten die Möglichkeit gehabt, eine vorläufige Begründung unter Rückgriff auf die einstweilige Verfügung sowie die mündliche Verhandlung zu formulieren.
Auch die behauptete Beeinträchtigung durch den drohenden Verlust der Aktualität wurde vom Gericht nicht als ausreichend begründet angesehen. Die Beschwerdeführer hätten konkret darlegen müssen, warum eine Nachreichung der Gründe innerhalb der Fünfmonatsfrist (§ 315 Abs. 2 Satz 3 ZPO) unzumutbar sei.
Bewertung
Der Beschluss verdeutlicht die hohen formalen Anforderungen an eine Verfassungsbeschwerde. Auch wenn die Rüge der Verfahrensverzögerung berechtigt erscheinen mag – eine erfolgreiche Grundrechtsbeschwerde verlangt präzise Darlegungen zur konkreten Rechtsbeeinträchtigung. Die Pressefreiheit wurde hier nicht materiell beschnitten, sondern durch die formelle Zurückweisung einer unzureichend begründeten Beschwerde unberührt gelassen.
Gleichzeitig wird deutlich, dass Gerichte bei einstweiligen Verfügungen im presserechtlichen Kontext zügig und mit klarer Begründung agieren sollten. Gerade weil der Zeitfaktor bei investigativer Berichterstattung entscheidend ist, darf die Praxis der Fünfmonatsfrist nicht zum faktischen Maulkorb verkommen. Das Bundesverfassungsgericht ließ hier offen, ob ein solches Vorgehen in künftigen Fällen gegen das Grundgesetz verstoßen könnte.
Fazit
Pressefreiheit und Justizgewährleistung stehen in einem fragilen Gleichgewicht. Die Entscheidung des BVerfG im Verfahren 2 BvR 468/25 mahnt zur präzisen rechtlichen Argumentation und zur strukturellen Achtsamkeit gegenüber journalistischer Arbeit. Künftige Verfahren dieser Art werden zeigen, ob die formale Zurückhaltung des Gerichts mit materiellem Grundrechtsschutz vereinbar bleibt.
Verdachtsberichterstattung im deutschen Medienrecht – Ein juristischer Überblick
Die Verdachtsberichterstattung ist ein sensibler Bereich des Medienrechts, der die Meinungs- und Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) und dem Unternehmenspersönlichkeitsrecht in Einklang bringen muss. Besonders bei öffentlichkeitswirksamen Recherchen über mögliche Straftaten oder sonstige Verfehlungen steht die mediale Aufarbeitung im Spannungsfeld zwischen öffentlichem Informationsinteresse und dem Schutz der betroffenen Person vor Vorverurteilung.
1. Grundrechtlicher Ausgangspunkt
Die Pressefreiheit schützt die Tätigkeit der Medien, einschließlich der Recherche, der Bewertung und der Veröffentlichung von Tatsachen und Meinungen. Der Schutz des Persönlichkeitsrechts wiederum gewährleistet die Integrität der Person – insbesondere gegenüber unzutreffenden oder ehrenrührigen Aussagen.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat wiederholt betont, dass eine Verdachtsberichterstattung zulässig sein kann, sofern sie sich auf ein Mindestmaß an Tatsachenbasis stützt, sachlich gehalten ist und die betroffene Person nicht vorverurteilt.
2. Rechtliche Einordnung: Tatsachenbehauptung vs. Meinungsäußerung
Im Rahmen der Verdachtsberichterstattung geht es regelmäßig um die Veröffentlichung eines Tatsachenverdachts – also um die Mitteilung, dass eine bestimmte Person unter Verdacht steht, etwas Unrechtmäßiges getan zu haben.
Die Rechtsprechung unterscheidet insoweit zwischen:
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Tatsachenbehauptungen, die dem Beweis zugänglich sind, und
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Werturteilen, die durch Elemente des Meinens oder Dafürhaltens geprägt sind.
Verdachtsäußerungen sind rechtlich wie Tatsachenbehauptungen zu behandeln, wenn sie auf konkrete, überprüfbare Vorgänge bezogen sind.
3. Zulässigkeit der Verdachtsberichterstattung
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) und des BVerfG gelten für die Zulässigkeit folgende Voraussetzungen:
a) Mindestbestand an Beweistatsachen
Es muss ein „Mindestbestand an Tatsachen“ vorliegen, der den Verdacht trägt. Vage Andeutungen oder reine Mutmaßungen reichen nicht aus (vgl. BGH NJW 2012, 2890; BVerfG NJW 2000, 1021).
b) Sorgfaltspflichten
Die journalistischen Sorgfaltspflichten gemäß § 6 Abs. 1 Pressekodex und Ziffer 2 des Presserats verlangen unter anderem:
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sorgfältige Recherche,
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Abgleich der Quellen,
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Einholung einer Stellungnahme der Betroffenen vor Veröffentlichung.
Ein Verstoß gegen diese Pflichten kann die Berichterstattung rechtswidrig machen.
c) Kennzeichnung als Verdacht
Der Verdacht muss für den Leser eindeutig als solcher erkennbar sein. Eine suggestive Darstellung, die wie eine Tatsache wirkt, ist unzulässig.
d) Gleichgewicht zwischen Informationsinteresse und Persönlichkeitsrecht
Es ist eine Abwägung vorzunehmen zwischen dem öffentlichen Informationsinteresse und dem Schutz der betroffenen Person. Dabei wird berücksichtigt:
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die Schwere des Vorwurfs,
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der Bekanntheitsgrad der betroffenen Person,
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ob ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde,
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ob sich die Person in einer Position mit besonderer Verantwortung befindet.
4. Besonderheiten bei Unternehmensberichterstattung
Bei juristischen Personen (z. B. Unternehmen) ist das Unternehmenspersönlichkeitsrecht betroffen. Auch hier gilt der Schutz vor rufschädigenden Verdachtsberichterstattungen. Die Schwelle für eine zulässige Berichterstattung liegt tendenziell höher, wenn keine konkrete Verantwortlichkeit nachweisbar ist.
5. Rechtsschutzmöglichkeiten
Betroffene können sich gegen unzulässige Verdachtsberichterstattung durch folgende Maßnahmen wehren:
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Gegendarstellung (§ 10 Abs. 1 PresseG der Länder)
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Unterlassungsklage (§ 1004 BGB analog i.V.m. § 823 BGB)
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Widerrufsverlangen
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Schadensersatz
Zudem besteht die Möglichkeit, im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes ein Verbot zu erwirken, sofern Eilbedürftigkeit vorliegt.
6. Fazit
Die Verdachtsberichterstattung ist ein zulässiges Mittel investigativer Pressearbeit, unterliegt jedoch engen rechtlichen Grenzen. Eine ausgewogene und sachlich korrekte Darstellung eines Verdachts unter Einhaltung journalistischer Sorgfaltspflichten ist verfassungsrechtlich geschützt. Die Anforderungen an Transparenz, Recherchetiefe und Abwägung sind hoch – zum Schutz der betroffenen Person ebenso wie zur Sicherung der Pressefreiheit.
Juristisch betrachtet stellt sich die Verdachtsberichterstattung stets als Gratwanderung dar, bei der die individuelle Rechtsposition und das Allgemeininteresse an Aufklärung in einem strukturierten Abwägungsprozess miteinander in Einklang zu bringen sind.