Was ist eine politische Brandmauer und ist sie mit Art. 21 GG vereinbar?

Der Begriff „Brandmauer“ wurde in der deutschen Politik erstmals in den 1990er Jahren verwendet. In dieser Zeit gewannen rechtsextreme Parteien wie die Republikaner oder die Deutsche Volksunion (DVU) an Zulauf. Die demokratischen Parteien sahen sich veranlasst, eine klare Linie der Abgrenzung zu ziehen, um den Einfluss dieser Parteien einzudämmen.
Diese Abgrenzung kann sowohl gegenüber rechtsextremen als auch linksextremen Parteien erfolgen. Die Frage, ob die Argumente für eine Brandmauer nach rechts identisch mit denen nach links sind, erfordert eine differenzierte Betrachtung der politischen Landschaft, der historischen Kontexte und der jeweiligen Gefahrenpotenziale für die Demokratie.
Gemeinsamkeiten der Argumente
-
Schutz der demokratischen Grundordnung: Sowohl bei der Abgrenzung nach rechts als auch nach links steht der Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung im Vordergrund. Extremistische Parteien, egal ob rechts oder links, werden als Bedrohung für demokratische Werte und Institutionen angesehen.
-
Verhinderung von Extremismus: Die Brandmauer soll verhindern, dass extremistische Ideologien politischen Einfluss gewinnen und gesellschaftliche Spaltungen vertiefen.
-
Moralische Verantwortung: Demokratische Parteien sehen es als ihre moralische Pflicht an, keine Zusammenarbeit mit Parteien einzugehen, die extremistisches Gedankengut fördern oder Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung legitimieren.
Unterschiede in den Argumenten
Trotz dieser Gemeinsamkeiten gibt es Unterschiede in der Anwendung und Begründung der Brandmauer gegenüber rechts- und linksextremen Parteien.
Historischer Kontext
-
Rechtsextremismus: Aufgrund der historischen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und den Verbrechen des Dritten Reiches ist die Sensibilität gegenüber rechtsextremen Tendenzen in Deutschland besonders hoch. Der Rechtsextremismus wird als direkte Bedrohung der Demokratie und der Menschenrechte wahrgenommen.
-
Linksextremismus: Die Erfahrungen mit dem Staatssozialismus in der DDR und anderen Ländern prägen das Bild des Linksextremismus. Allerdings wird die Gefahr oft differenzierter betrachtet, da einige linke Strömungen soziale Gerechtigkeit und Antifaschismus betonen.
Parteipolitische Praxis
-
Rechts: Die Alternative für Deutschland (AfD) wird von den meisten etablierten Parteien als rechtsextrem oder zumindest rechtspopulistisch eingestuft. Eine Zusammenarbeit wird kategorisch abgelehnt. Die Brandmauer nach rechts ist in diesem Sinne relativ einheitlich und strikt.
-
Links: Bei Parteien wie Die Linke ist die Haltung differenzierter. Während Teile der Partei als linksextrem gelten, arbeiten SPD und Grüne auf kommunaler und Landesebene mit ihr zusammen. Die Brandmauer nach links ist somit weniger klar definiert und wird oft von Fall zu Fall entschieden.
Gesellschaftliche Wahrnehmung
-
Asymmetrische Radikalisierung: In der öffentlichen Debatte wird häufig argumentiert, dass der Rechtsextremismus eine größere unmittelbare Gefahr darstellt, insbesondere aufgrund von rechtsterroristischen Anschlägen und Netzwerken. Linksextremistische Gewalt wird zwar auch verurteilt, jedoch seltener als Bedrohung für die gesamte Gesellschaft wahrgenommen.
-
Ideologische Unterschiede: Rechtsextremismus wird oft mit Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit in Verbindung gebracht. Linksextremismus hingegen fokussiert sich auf Antikapitalismus und Sozialismus. Die unterschiedlichen Ideologien führen zu verschiedenen Bewertungen der Gefährdungspotenziale.
Die Argumente für eine Brandmauer nach rechts und nach links sind in ihrem Kern ähnlich, da sie beide den Schutz der Demokratie und die Abwehr extremistischer Ideologien zum Ziel haben. Jedoch unterscheiden sie sich in der Anwendung und Intensität aufgrund historischer Erfahrungen, gesellschaftlicher Wahrnehmungen und parteipolitischer Praktiken.
Ist eine politische Brandmauer nach rechts und links mit der demokratischen Aufgabe aus Artikel 21 GG der Parteien vereinbar, oder ist dies nur die Verweigerung der politischen Auseinandersetzung?
Artikel 21 GG definiert die Rolle und Pflichten politischer Parteien in Deutschland:
-
Absatz 1: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen.“
-
Absatz 2: „Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitlich demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen […] sind verfassungswidrig. Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht.“
Die Parteien haben also die Aufgabe, an der politischen Willensbildung mitzuwirken und die demokratische Grundordnung zu achten und zu schützen.
-
Politische Bewertung und Entscheidungsfreiheit
- Parteiautonomie: Demokratische Parteien haben das Recht, eigenständig zu entscheiden, mit welchen anderen Parteien sie kooperieren oder sich abgrenzen möchten.
- Politische Verantwortung: Sie können aufgrund eigener politischer Bewertungen und Überzeugungen entscheiden, dass sie eine Zusammenarbeit mit bestimmten Parteien ablehnen, auch wenn diese nicht verboten sind.
-
Demokratische Legitimität der Abgrenzung
- Schutz demokratischer Werte: Parteien können es als ihre Pflicht ansehen, sich von Parteien abzugrenzen, die nach ihrer Einschätzung demokratische Grundwerte gefährden, selbst wenn diese nicht offiziell als extremistisch eingestuft wurden.
- Signalwirkung: Die Abgrenzung kann ein Zeichen an die Wählerschaft sein, dass bestimmte Positionen oder Ideologien nicht mit den eigenen Grundsätzen vereinbar sind.
-
Keine Verweigerung der politischen Auseinandersetzung
- Inhaltliche Debatte: Die Ablehnung einer Zusammenarbeit bedeutet nicht zwangsläufig, dass keine inhaltliche Auseinandersetzung stattfindet. Parteien können und sollten sich kritisch mit den Positionen anderer Parteien auseinandersetzen.
- Demokratischer Diskurs: Die politische Debatte bleibt bestehen, aber auf einer Ebene, die klare Grenzen gegenüber bestimmten Ideologien zieht.
Beispiele aus der politischen Praxis
- Alternative für Deutschland (AfD): Obwohl die AfD nicht verboten ist und im Bundestag sowie in Landtagen vertreten ist, lehnen die meisten etablierten Parteien eine Zusammenarbeit ab. Dies basiert auf ihrer Einschätzung, dass bestimmte Teile der AfD extremistische Tendenzen aufweisen.
- Die Linke: In einigen Bundesländern gibt es Vorbehalte gegenüber einer Zusammenarbeit mit der Linken, insbesondere wenn einzelne Mitglieder oder Strömungen als extremistisch angesehen werden, obwohl die Partei nicht verboten ist.
Die Anwendung der Brandmauer gegenüber Parteien, die nicht vom Bundesverfassungsgericht als extremistisch eingestuft oder verboten wurden, ist mit der demokratischen Aufgabe aus Artikel 21 GG vereinbar. Demokratische Parteien haben das Recht und die Verantwortung, auf Grundlage ihrer politischen Überzeugungen zu entscheiden, mit welchen Parteien sie zusammenarbeiten und von welchen sie sich abgrenzen möchten.
Führt die Verweigerung einer sachpolitischen Zusammenarbeit mit einer Partei, gegenüber der eine Brandmauer besteht, nicht zu einer Förderung dieser Partei? Was sagt die historische Erfahrung?
Auswirkungen der Brandmauer auf die betroffene Partei
-
Mögliche Förderung durch Ausgrenzung
- Opferrolle und Protestpotenzial: Wenn eine Partei systematisch ausgegrenzt wird, kann sie sich als Opfer des Establishments darstellen. Dies kann Protestwähler mobilisieren, die unzufrieden mit den etablierten Parteien sind.
- Mediale Aufmerksamkeit: Die ständige Diskussion über die Partei und die Brandmauer kann ihr zusätzliche Medienpräsenz verschaffen.
- Polarisierung der Gesellschaft: Die Ausgrenzung kann dazu führen, dass sich Anhänger der Partei stärker mit ihr identifizieren und radikalisieren.
-
Argumente gegen eine Förderung durch die Brandmauer
- Delegitimierung extremistischer Positionen: Die Brandmauer signalisiert klar, dass bestimmte Positionen nicht akzeptabel sind, was potenzielle Wähler abschrecken kann.
- Verhinderung von Einflussnahme: Durch die Abgrenzung wird der Partei der Zugang zu politischen Entscheidungsprozessen erschwert, was ihre Wirksamkeit einschränkt.
Historische Erfahrungen
-
Weimarer Republik und NSDAP
- Fragmentierung des Parteiensystems: In den 1920er und 1930er Jahren führte die Unfähigkeit der demokratischen Parteien zur Zusammenarbeit zu politischen Instabilitäten.
- Aufstieg der NSDAP: Die NSDAP profitierte von der politischen und wirtschaftlichen Krise, aber auch von der Unfähigkeit der etablierten Parteien, Lösungen anzubieten.
-
Cordon Sanitaire in Belgien
- Vlaams Belang: In Belgien wurde eine „Cordon Sanitaire“ um die rechtsextreme Partei Vlaams Belang errichtet.
- Erfolg und Misserfolg: Während die Partei zunächst isoliert wurde, konnte sie langfristig in bestimmten Regionen trotzdem hohe Wahlergebnisse erzielen.
-
Front National in Frankreich
- Ausgrenzungspolitik: Der Front National (heute Rassemblement National) wurde lange von anderen Parteien ausgegrenzt.
- Steigende Popularität: Trotz (oder wegen) der Ausgrenzung stieg die Zustimmung in der Bevölkerung über die Jahre an.
-
Ostdeutsche Bundesländer
- Erfolge der AfD: In einigen ostdeutschen Bundesländern erzielt die AfD bereits heute Wahlergebnisse über 20 %, trotz der bestehenden Brandmauer.
Die Wirkung einer Brandmauer hängt von vielen Faktoren ab:
- Kommunikation und Handeln der etablierten Parteien: Wenn sie glaubwürdig Politik für die Bürger machen und deren Sorgen ernst nehmen, können sie das Protestpotenzial reduzieren.
- Gesellschaftlicher Diskurs: Offene Debatten und die Einbindung der Bürger können Extremismus entgegenwirken.
- Rechtsstaatliche Maßnahmen: Beobachtung durch den Verfassungsschutz und ggf. Verbote bei verfassungsfeindlichen Aktivitäten.