Vorverurteilung trotz Unschuldsvermutung?

„Schon der Prozess kann Strafe sein“ – Wenn Ermittlungsverfahren zur Tortur werden
Der Artikel von Rafael van Rienen in der Frankfurter Allgemeine Zeitung beleuchtet die gravierenden Auswirkungen, die ein Ermittlungsverfahren für betroffene Führungskräfte haben kann. Auch wenn die Unschuldsvermutung gilt, sind die sozialen, finanziellen und beruflichen Konsequenzen für die Betroffenen oft enorm – selbst, wenn am Ende ein Freispruch steht.
Die beschriebenen Auswirkungen bestätigen Praxiserfahrungen, die wir als Kanzlei Graf Kerssenbrock & Kollegen z.B. im Zusammenhang mit der Abwahl von Bürgermeister Kaser in Wedel machen mußten.
Von Ermittlungen überrascht: Ein Albtraum für Führungskräfte
Viele Manager und Führungskräfte erleben den ersten Schock, wenn die Staatsanwaltschaft Ermittlungen einleitet – oft erfährt der Betroffene davon erst über die Presse oder durch eine überraschende Durchsuchung der Wohnung und des Arbeitsplatzes. Dieser Schritt, der meist in den frühen Morgenstunden geschieht, geht oft mit Beschlagnahmungen von IT-Geräten und Dokumenten einher. Ohne Zugang zu notwendigen Unterlagen stehen die Betroffenen nicht nur beruflich, sondern auch privat vor großen Problemen, etwa bei der Erledigung steuerlicher Pflichten.
Ruf, Karriere und Finanzen auf dem Spiel
Ein Ermittlungsverfahren ist häufig gleichbedeutend mit einem erheblichen Reputationsschaden, insbesondere wenn Namen öffentlich werden. In den sozialen Medien gibt es oft vorzeitige Verurteilungen, auf die die Betroffenen kaum Einfluss haben. Auch im Unternehmen selbst kann ein Ermittlungsverfahren zu negativen Folgen wie Suspendierungen oder sogar Kündigungen führen. Besonders schwer ist es, wenn der Arbeitgeber interne Informationen sperrt, die für die Verteidigung relevant wären. In bestimmten Branchen, wie der Finanzwirtschaft, können Behörden wie die Bafin und die EZB die Eignung des Beschuldigten für leitende Positionen in Frage stellen, was in der Praxis einem Berufsverbot gleichkommen kann.
Rechtsschutzversicherung: Keine verlässliche Absicherung
Für viele Betroffene stellt sich die Frage nach den enormen Kosten eines Verteidigers. In der Wirtschaftsstrafverteidigung verlangen viele Anwälte hohe Stundensätze, die Rechtsschutzversicherungen nicht immer abdecken. Manager-Haftpflichtversicherungen (D&O) greifen meist nur bei zivilrechtlichen Ansprüchen, und selbst bei bestehendem Strafrechtsschutz können Versicherungen Rückzahlungen fordern, sollte eine Verurteilung wegen Vorsatzes erfolgen. Somit riskieren die Betroffenen eine Verschuldung, trotz vorhandener Versicherungen.
Untersuchungshaft und Vermögensarrest: Weitere Belastungen
Kommt es zur Untersuchungshaft, werden die Probleme noch gravierender. Diese wird zwar im Falle einer Verurteilung auf die Strafe angerechnet, doch erhalten Freigesprochene lediglich eine geringe Entschädigung von 75 Euro pro Tag. Für viele wird dies als ein „Sonderopfer“ im Interesse der Strafverfolgung empfunden. Auch finanzielle Maßnahmen wie Vermögensarreste, die Konten und Vermögenswerte bis zum Verfahrensende blockieren, können Betroffene in ernsthafte Zahlungsschwierigkeiten bringen.
Ein langer Weg bis zur Klärung
Wirtschaftsstrafverfahren ziehen sich oft über Jahre hin, da Ermittlungen und Aktenauswertungen umfangreich sind. Bei komplexen Fällen können Hunderte Aktenordner oder digitale Dokumente anfallen. Wird Anklage erhoben, kann das Verfahren sich über viele Verhandlungstage erstrecken, was berufstätige Angeklagte stark belastet. Selbst nach einem Freispruch kann die Staatsanwaltschaft Revision einlegen und den Fall weiter verlängern. Die gesetzlichen Rückerstattungen decken zudem nur einen Bruchteil der tatsächlichen Verteidigungskosten.
Präventive Schritte und Compliance
Ein Patentrezept zur Vermeidung solcher Ermittlungsverfahren gibt es nicht. Rafael van Rienen empfiehlt jedoch, frühzeitig die Compliance-Abteilung oder einen Anwalt zu Rate zu ziehen, wenn es zu Unklarheiten oder ethischen Zweifeln im Unternehmen kommt. Diese Präventionsmaßnahmen können helfen, rechtliche Risiken zu minimieren und ein Bewusstsein für potenzielle Probleme zu schaffen.
Dieser Artikel verdeutlicht eindrucksvoll, dass allein der Prozess – und nicht nur das Urteil – eine erhebliche Belastung für Beschuldigte darstellt. Für Führungskräfte und Manager wird die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens oft zu einem persönlichen, finanziellen und sozialen Albtraum.
Ein aktuelles Beispiel auf unserer Praxis – Bürgermeisterabwahl in Wedel:
Das bisher ungeklärte Strafverfahren gegen Bürgermeister Gernot Kaser aufgraund einer Strafanzeige der Stadt Wedel hat eine bedeutende Rolle im Kontext seiner Abwahl gespielt. Hintergrund ist ein umfassendes Disziplinarverfahren, das aufgrund verschiedener Vorwürfe gegen Kaser eingeleitet wurde, insbesondere in Bezug auf die Mitarbeiterführung und Entscheidungen im Stadtmarketing. Das Verfahren wurde vom Innenministerium Schleswig-Holsteins initiiert, nachdem Hinweise auf angebliche beamtenrechtliche Pflichtverletzungen und Spannungen in der Zusammenarbeit mit dem Rat der Stadt aufkamen.
Die Staatsanwaltschaft Itzehoe prüfte zudem mögliche strafrechtliche Sachverhalte, die auf Anzeigen gegen Kaser basierten. Diese umfassen insbesondere die Vorwürfe, dass Kaser ohne rechtliche Grundlage oder Abstimmung mit dem Stadtrat Rechnungen anwies und hierbei gegen die kommunalen Vorschriften verstoßen haben soll.
Ein wesentlicher Faktor in diesem Verfahren war Kasers Entscheidung, die jährlichen Zahlungen an „Wedel Marketing e.V.“ in Höhe von 100.000 Euro einstellen zu wollen, um das Stadtmarketing neu zu strukturieren. Diese Initiative führte jedoch zu erheblichen Konflikten mit der Ratsmehrheit, die den Abwahlantrag unterstützte. Laut Protokollen und öffentlichen Aussagen wurde Kasers Vorgehen als eigenmächtig und unkooperativ beschrieben, was das Vertrauensverhältnis zum Rat weiter beschädigte.
Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass das andauernde Disziplinarverfahren mit andauerndem Strafverfahren und die damit verbundenen Unstimmigkeiten innerhalb der Stadtverwaltung sowie die Ratskonflikte als Grundlage für den Abwahlantrag dienten und in der politischen Auseinandersetzung als Argumente gegen Kasers Amtsführung herangezogen wurden.