Wieviel Politik verträgt das Bundesverfassungsgericht? – Zur Richterwahl 2025, dem Verlust an Unabhängigkeit und möglichen Reformwegen

I. Aktueller Anlass: Richterwahl 2025 am Bundesverfassungsgericht
Im Juli 2025 stehen drei Neubesetzungen am Bundesverfassungsgericht an. Die Bedeutung dieser Wahl ist nicht nur juristisch, sondern auch verfassungspolitisch enorm: Es geht um die zukünftige Ausrichtung der Rechtsprechung des höchsten deutschen Gerichts – insbesondere im Zweiten Senat, der unter anderem über Fragen zur Parteienfinanzierung, Wahlrecht, Paritätsgesetze, Datenschutz und Bundesstaatsprinzip entscheidet.
Am späten Abend des 7. Juli 2025 hat der Wahlausschuss des Deutschen Bundestages drei Kandidaten nominiert:
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Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf, vorgeschlagen von der SPD,
Wahl von Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf – Bundesverfassungsgericht -
Prof. Dr. Ann-Katrin Kaufhold, ebenfalls SPD-Vorschlag,
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Günter Spinner, Richter am Bundesarbeitsgericht, vorgeschlagen von CDU/CSU.
Die öffentliche Aufmerksamkeit konzentriert sich insbesondere auf Brosius-Gersdorf, deren wissenschaftliche und ethische Positionierungen – etwa zum Schwangerschaftsabbruch, zur Gleichstellung oder zur AfD – als „umstritten“ gelten. Das allein ist jedoch kein rechtliches Hindernis. Dennoch steht zur Debatte, ob das Verfahren selbst – und nicht die Kandidatin – das eigentliche Problem darstellt.
II. Politische Mechanik hinter der Richterwahl – und ihre Gefahren
1. Rechtlicher Rahmen mit politischer Handschrift
Gemäß Art. 94 Abs. 1 GG und § 6 BVerfGG erfolgt die Wahl der Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts je zur Hälfte durch Bundestag und Bundesrat mit Zwei-Drittel-Mehrheit. Diese Regel soll politische Konsensfähigkeit erzwingen – in der Praxis jedoch macht sie parteipolitische Absprache zur faktischen Voraussetzung der Wahl.
Damit aber steht fest: Die parteipolitische Taktik ersetzt die verfassungsrechtliche Eignung als Maßstab der Auswahl. Die Richterwahl wird zur Verhandlungsmasse – und das höchste Gericht zur Bühne für parteipolitische Signale.
2. Der Preis der Zweidrittelmehrheit: Verlust öffentlicher Autorität
Das Bundesverfassungsgericht genießt in der Bevölkerung eine hohe – aber keine unantastbare – Glaubwürdigkeit. Diese fußt auf dem Eindruck von juristischer Exzellenz, überparteilicher Ausgewogenheit und persönlicher Integrität.
Wenn jedoch politische Bündnisse gegen eine verweigernde Opposition gezwungen geschmiedet werden müssen, entsteht ein Bild politischer Lagerbildung, das auch auf das Gericht abstrahlt. Selbst bei bester Qualifikation der Gewählten wird der Eindruck einer parteilich beeinflussten Personalpolitik schwer revidierbar.
III. Die Politisierung des Gerichts – institutionelles Risiko für Demokratie und Rechtsstaat
1. Was bedeutet Politisierung in diesem Kontext?
Politisierung meint hier nicht die individuelle politische Haltung einer Richterin oder eines Richters – Politisierung bedeutet vielmehr:
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institutionelle Abhängigkeit der Auswahlentscheidung von parteipolitischer Taktik,
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systematische Einordnung der Gerichtszusammensetzung in Regierung vs. Opposition,
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Verlust öffentlicher Wahrnehmung von Neutralität, Ausgewogenheit und Dogmenpluralität.
Gerade in einer Zeit, in der das Vertrauen in Institutionen rückläufig ist, birgt dies die Gefahr, dass das BVerfG nicht mehr als rechtsprechende Instanz über dem Parteienstreit, sondern als Teil politischer Konfliktlinien wahrgenommen wird.
2. Konsequenz: Erosion der verfassungsgerichtlichen Autorität
Ein Bundesverfassungsgericht, dessen Besetzung erkennbar auf politischen Proporz zurückzuführen ist, verliert seine Rolle als „Gericht der Letztverantwortung“. Seine Urteile werden dann nicht mehr aus ihrer Begründung heraus akzeptiert, sondern als Ausdruck einer parteinahen Haltung bewertet. Dies ist langfristig brandgefährlich für die demokratische Verfassungsordnung – zumal das BVerfG gerade gegen politische Mehrheiten Recht setzen können muss.
IV. Reformvorschläge – Unabhängige wählen Unabhängige
1. Ein alternatives Wahlsystem: Wahl durch die Judikative selbst
Die entscheidende Frage lautet: Wie lässt sich richterliche Unabhängigkeit institutionell sichern, wenn die Auswahl selbst politisch erfolgt?
Ein plausibler Reformansatz lautet:
Verfassungsrichterinnen und -richter sollen von der Judikative gewählt werden – nicht von der Legislative.
Ein mögliches Modell:
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Bildung eines unabhängigen, plural besetzten Verfassungsauswahlausschusses, bestehend aus:
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Präsident:innen der obersten Bundesgerichte,
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Vertretern der Anwaltschaft (z. B. BRAK, DAV),
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Hochschulvertretern mit verfassungsrechtlicher Qualifikation,
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ggf. beratender Beteiligung des Bundestages ohne Vetorecht.
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Das Gremium führt ein dokumentiertes, öffentlich nachvollziehbares Auswahlverfahren durch, basierend auf objektiven Kriterien:
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wissenschaftliche und richterliche Exzellenz,
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Nachweis verfassungsrechtlicher Kompetenz,
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Integrität, Pluralitätsfähigkeit und Berufserfahrung.
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Wahl mit qualifizierter Mehrheit innerhalb des Gremiums, ohne parteipolitische Bindung.
2. Vorteile eines solchen Systems
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Entkoppelung vom parteipolitischen Tagesgeschäft,
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Verlagerung der Auswahl auf Fachgremien,
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Stärkung des Vertrauens in Neutralität und Kompetenz,
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Förderung langfristiger Kontinuität statt taktischer Entscheidungen,
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Vermeidung von Reputationsschäden durch öffentliche Koalitionsbildung mit Rändern des Parteienspektrums (AfD/Linke).
3. Verfassungsrechtliche Umsetzbarkeit
Ein solches Modell wäre nur über Änderung des Grundgesetzes möglich (Art. 94 GG). Dies erfordert politische Mehrheit und öffentlichen Druck. Aber angesichts der zunehmenden Kritik an der Politisierung des Gerichts könnte eine breite gesellschaftliche Debatte über das „Wahlrecht der Unabhängigen“ Momentum gewinnen.
V. Fazit: Zwischen verfassungsrechtlicher Legalität und institutioneller Legitimität
Die Richterwahl 2025 zeigt nicht, dass einzelne Kandidaten ungeeignet sind – sie zeigt, dass das Verfahren selbst die Unabhängigkeit gefährdet. Eine Wahl unter Einbindung extremer politischer Ränder, nur um Mehrheiten zu erreichen, beschädigt die Integrität des Gerichts.
Ein unabhängiges Wahlsystem durch Juristen statt Politiker wäre ein konsequenter Schritt zurück zur Idee der richterlichen Gewalt als getrennte, nicht abhängige Staatsgewalt.
Denn:
Nur wer unabhängig gewählt wird, kann unabhängig urteilen
2 Antworten
Dem Befund, dass das Ansehen und die Autorität des BVerfG durch die Vorgänge im Zusammenhang mit der gescheiterten Richterwahl beschädigt worden sind, ist zuzustimmen. Ebenso der Bewertung, dass damit große Gefahren für den Rechtsstaat verbunden sind. Auch ist der Vorschlag eines Wahlverfahrens quasi durch Experten auf den ersten Blick verführerisch. Ein Element der Kooptation in die Judikative könnte qualitätssichernd wirken. Es würde allerdings die Gefahr eines „Staates im Staate“ heraufbeschwören.
Entscheidend ist jedoch ein anderer Einwand. Es fehlte bei diesem Verfahren die demokratische Legitimation nach Art. 20 Abs. 2 GG. Das ist allerdings ein unübersteigbares Hindernis.
Nein, durch verbesserte Checks und Balances, durch optimiertes Verfahrensrecht an dieser oder einer anderen Stelle sind weder der Rechtsstaat noch die Demokratie zu retten. In dieser Hinsicht sind wir schon recht gut aufgestellt. Aber ein anderes Element ist unverzichtbar: die Selbstbeschränkung der Macht. Ohne sie geht es nicht.
Politiker, die glauben, dass sie durch eine Mehrheit im Rücken omnipotent geworden wären, sind die eigentliche Gefahr. Nicht nur Trump ist gemeint, Beispiele finden sich auch bei uns. Die Ansichten von Verfassungsrichtern müssen eben gerade nicht dem momentan in der Politik vorherrschenden Meinungsklima entsprechen. Das intendiert zu haben, ist der eigentliche Sündenfall einiger Bundestagsabgeordneter. Jede richterliche Tätigkeit ist bekanntlich allein dem Recht verpflichtet, nicht irgendeiner Meinung. Das klingt vielleicht eine Spur naiv, ist aber lebenswichtig.
Selbstbeschränkung: Wenn Friedrich II. von Preußen (jedenfalls der Legende nach) nicht die Rechte des Müllers von Sanssouci respektiert sondern seine Macht durchgesetzt hätte, gäbe es wohl in unseren Landen keinen Rechtsstaat.
Exzellnter Vorschlag. Denn die Mehrzahl der Politiker, welche BVerfG-Richter bestimmen, liegen mit ihrer Ausbildung weit hinter denen von Richtern. Wie also können sie die Kompetenz von Anwärtern ernsthaft bestimmen. So besehen ist Mauschelei Tür und Tor geöffnet, zumal wenn es in Koalitionen wie vorliegend, nicht klappt.
Ob es dabei klug war, dass sich B.-G. zur AfD geäußert hat, kann dahinstehen. Vielleicht sollte man sich zurück erinnern, dass etwa bei der Wahl von Böckernförde niemand auf die Idee verfallen wäre, auf seine katholische Orthodoxie abzustellen, genausowenig aus dem Minderheitsvotum zum Schwangerschaftsabruch der Richterin Rupp-v.Brünneck deren jurisirtsche Kompetenz zu bezweifeln (ganz abgesehen davon, dass sie Elisabeth Selbert beim Herrenchiemsee-Entwurf zum Art. 3 GG unterstüzte).
Der Vorschlag der Kanzlei Kerssenbrock wäre mithin eine Chance, im Recht zu den Sachverhalten zurückzufinden. Letzteres gilt i.Ü. generell.
Dr. Gustav W. Sauer, MinDirig.i.R., Hittfeld