Die Einstufung der AfD als gesichert verfassungswidrig – juristische Einordnung, Implikationen und Prüfung eines Parteiverbots nach Art. 21 Abs. 2 GG

Zum Beitrag vom 5.9.2024 – Was bedeutet gesichert rechtsextremistisch?
Am 2. Mai 2025 wurde durch das Bundesamt für Verfassungsschutz die Alternative für Deutschland (AfD) bundesweit als „gesichert rechtsextremistische Bestrebung“ eingestuft. Diese Maßnahme ist von erheblicher grundrechtlicher, institutioneller und politischer Relevanz. Aus verfassungsrechtlicher Perspektive wirft sie insbesondere die Frage auf, ob ein Parteiverbotsverfahren nach Art. 21 Abs. 2 GG gegen die AfD in Betracht kommt und unter welchen Voraussetzungen ein solches Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht Aussicht auf Erfolg hätte.
Begriffliche und systematische Einordnung: „gesichert verfassungswidrig“
Die Kategorisierung als „gesichert rechtsextremistische Bestrebung“ ist das Ergebnis einer dreistufigen Bewertung des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), die zwischen Verdachtsfall, Beobachtungsobjekt und gesichert extremistischen Bestrebungen unterscheidet. Mit der jetzigen Einstufung bescheinigt das BfV der AfD, aktiv und mit nachgewiesener Kontinuität Bestrebungen zu verfolgen, die gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung (FDGO) im Sinne des § 4 Abs. 1 BVerfSchG gerichtet sind.
Der Begriff „verfassungswidrig“ ist in diesem Zusammenhang nicht gleichzusetzen mit einer förmlichen Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht. Vielmehr handelt es sich um eine verwaltungsrechtliche Bewertung durch das BfV im Rahmen seiner Beobachtungs- und Analysekompetenz. Der Begriff erhält jedoch normativen Gehalt im Lichte des Art. 21 Abs. 2 GG, der nur durch das Bundesverfassungsgericht rechtsverbindlich ausgesprochen werden kann.
Voraussetzungen eines Parteiverbots nach Art. 21 Abs. 2 GG
1. Maßgeblicher Prüfungsmaßstab
Nach Art. 21 Abs. 2 GG sind Parteien verfassungswidrig, wenn sie nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden. Die Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit obliegt allein dem Bundesverfassungsgericht.
Die verfassungsgerichtliche Verbotsprüfung erfolgt in zwei kumulativ zu erfüllenden Schritten:
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Verfassungsfeindlichkeit der Zielsetzung: Die Partei muss eine politische Zielrichtung verfolgen, die auf die Beseitigung oder erhebliche Beeinträchtigung zentraler Strukturprinzipien der FDGO abzielt, etwa Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Menschenwürde, Pluralismus und das Mehrparteienprinzip.
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Aktiv-kämpferisches Verhalten mit Potenzialität: Die Partei muss mit einem aktiv-kämpferischen Vorgehen auf die Durchsetzung dieser verfassungsfeindlichen Ziele hinarbeiten. Hierbei muss ein „konkretes Gefährdungspotential“ bestehen, d.h. die Partei muss zumindest strukturell in der Lage sein, ihre verfassungsfeindlichen Ziele mittelfristig umzusetzen.
2. Maßstab nach dem NPD-Urteil von 2017
Das Bundesverfassungsgericht hat im Urteil vom 17. Januar 2017 zur NPD (2 BvB 1/13) das Erfordernis einer „Potenzialität“ betont: Ein Parteiverbot sei nur dann zulässig, wenn eine Partei nicht nur verfassungsfeindliche Ziele verfolge, sondern auch ein gewisses Maß an politischem Einfluss und Wirkungsmacht habe, um diese Ziele realisieren zu können.
Die NPD scheiterte in diesem Verfahren trotz ihrer nachgewiesenen verfassungsfeindlichen Ausrichtung, weil sie objektiv nicht in der Lage war, die freiheitlich-demokratische Grundordnung ernsthaft zu gefährden. Damit wurde ein sehr hoher Maßstab für das Verbot politischer Parteien etabliert, was Ausdruck des in Art. 21 GG verankerten Schutzes des politischen Pluralismus ist.
Anwendung auf die AfD
1. Zielrichtung der Partei
Die verfassungsfeindliche Zielrichtung der AfD ergibt sich aus umfangreichen Aussagen, Programminhalten und der strategischen Positionierung insbesondere zentraler Gliederungen und Führungspersonen. Im Vordergrund steht dabei eine ethnisch definierte Vorstellung von „Volk“ und „Staatsbürger“, die mit dem Individualitätsprinzip und der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes unvereinbar ist. Ebenso feststellbar ist die Ablehnung pluralistischer Prinzipien sowie eine bewusste Diskreditierung von Parlamentarismus, Gewaltenteilung und unabhängiger Justiz.
Ein weiterer zentraler Aspekt ist die von Teilen der AfD betriebene Agitation gegen Minderheiten, insbesondere Muslime, mit dem Ziel der Ausgrenzung und Entrechtung. Dies überschreitet die Schwelle bloßer Meinungskundgabe und zeigt vielmehr ein strukturelles, parteipolitisches Programm zur Aushöhlung verfassungsrechtlicher Schutzgüter.
2. Aktiv-kämpferisches Vorgehen und Potenzialität
Im Unterschied zur NPD verfügt die AfD über ein erhebliches Maß an politischer Macht und öffentlicher Wirksamkeit. Sie ist in nahezu allen Landesparlamenten sowie im Deutschen Bundestag vertreten und erreicht zweistellige Wahlergebnisse. Dies verleiht ihr eine Plattform zur Verbreitung ihrer verfassungsfeindlichen Zielsetzungen sowie zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung und politischen Debatten.
Insbesondere der Zugriff auf Ressourcen der staatlichen Parteienfinanzierung, die Möglichkeit zur Besetzung institutioneller Schlüsselstellen (z.B. Ausschüsse, parlamentarische Untersuchungsausschüsse), und ihre starke Präsenz in bestimmten gesellschaftlichen Milieus verschaffen ihr ein effektives Wirkpotenzial. Die Schwelle zur Potenzialität wäre nach dem Maßstab der NPD-Entscheidung damit zumindest plausibel überschritten.
Politische und verfassungsrechtliche Risiken eines Verbotsverfahrens
Ein Parteiverbot stellt stets einen tiefen Eingriff in den demokratischen Wettbewerb dar und muss in einem freiheitlich verfassten Staat ultima ratio bleiben. Eine politisch einflussreiche Partei wie die AfD in einem offenen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zu verbieten, birgt auch strategische Risiken:
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Mobilisierungseffekt: Die Partei könnte sich im Verfahren erfolgreich als Opfer „politischer Justiz“ inszenieren und ihre Basis emotionalisieren.
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Scheitern mit Signalwirkung: Ein erneut gescheitertes Verbotsverfahren – trotz gestiegener Gefahr – könnte zur faktischen Legitimierung der Partei führen und das Vertrauen in die wehrhafte Demokratie untergraben.
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Langwierigkeit: Ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ist prozessual aufwändig, benötigt umfangreiche Beweise und könnte über Jahre geführt werden.
Allerdings ist zu betonen, dass das Grundgesetz bewusst in Art. 21 Abs. 2 GG einen Mechanismus geschaffen hat, um dem Missbrauch der Freiheitsordnung durch ihre Feinde zu begegnen. Die „wehrhafte Demokratie“ darf in Fällen systematischer Angriffe auf die FDGO nicht in Passivität verharren.
Die Frage, ob ein Parteiverbotsverfahren gegen die AfD politisch klug ist, muss differenziert beantwortet werden – unter Berücksichtigung rechtsstaatlicher Grundsätze, demokratietheoretischer Erwägungen und strategisch-politischer Effekte. Es geht dabei weniger um die rechtliche Zulässigkeit (die sich nach Art. 21 Abs. 2 GG beurteilt), sondern um Zweckmäßigkeit und die Folgewirkungen im demokratischen Diskurs.
I. Demokratiepolitisches Prinzip: Streit in der Sache, nicht Verbot der Gegenseite
Die freiheitliche demokratische Grundordnung lebt vom offenen Wettstreit der Meinungen. Parteien, die missliebige, provokante oder extreme Positionen vertreten, sollen inhaltlich bekämpft werden – durch bessere Argumente, politische Mobilisierung und gesellschaftlichen Widerstand. Ein Parteiverbot ist aus dieser Sicht Ausdruck eines autoritären Reflexes, wenn man inhaltlich nicht mehr überzeugt oder mobilisiert bekommt.
Ein Verbot ersetzt keine politische Auseinandersetzung. Im Gegenteil: Es kann die Debatte delegitimieren, sie in rechtliche Verfahren verlagern und damit entpolitisieren. Die AfD wäre in der Lage, sich als „Opfer der Systemparteien“ zu inszenieren – eine Strategie, die sie bereits rhetorisch intensiv verfolgt.
II. Psychopolitische Folgen: Märtyrer-Effekt und Mobilisierung
Ein Verbot – oder schon der Antrag – kann erhebliche Mobilisierungseffekte auslösen. Eine Partei, die sich als „Sprachrohr des Volkes gegen die da oben“ inszeniert, kann ein Verbotsverfahren zum Beweis dieser Erzählung machen. Dies ist kein abstraktes Risiko, sondern eine realistische Gefahr: Das Verbot wird nicht das Weltbild der Anhänger zerstören, sondern es validieren.
Zudem entstehen Märtyrer-Narrative, die sich über Jahre in die kollektive Identität der Bewegung einbrennen können – mit langfristigerer Wirkung als die juristische Entscheidung selbst.
III. Effektivität und Symbolpolitik
Ein Parteiverbot hat keinen unmittelbaren Einfluss auf die politischen Ideen selbst. Eine verbotene Partei kann sich unter anderem Namen reorganisieren, ihr Personal neu formieren, ihre Inhalte in außerparlamentarische Bewegungen verlagern. Strukturen wandeln sich, Inhalte bleiben.
Es gibt zudem eine begrenzte Effektivität eines Verbots in Zeiten digitaler und global vernetzter Kommunikation. Auch im Ausland oder in supranationalen Strukturen können Positionen weiter betrieben werden.
IV. Gefahren für das demokratische System selbst
Ein missglücktes Verfahren – etwa durch fehlende Potenzialität oder prozessuale Mängel – wäre nicht nur wirkungslos, sondern kontraproduktiv. Es würde den Gegner stärken, Zweifel an der Objektivität der Justiz nähren und das Vertrauen in die Wehrhaftigkeit des demokratischen Rechtsstaats untergraben.
Demokratien wirken am stärksten, wenn sie sich durch Selbstvertrauen auszeichnen: Wer überzeugt ist von der Überlegenheit seiner Werte, braucht keine Ausschlussmechanismen, solange nicht unmittelbare Systemgefährdungen drohen.
V. Wann ein Parteiverbot trotzdem klug sein kann
Ein Verbot kann dann politisch klug sein, wenn:
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die Partei systematisch gegen die Grundlagen der Verfassung arbeitet, nicht nur rhetorisch, sondern organisatorisch-strategisch;
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der Rechtsstaat glaubwürdig nachweisen kann, dass alle anderen Mittel der politischen Auseinandersetzung ausgeschöpft wurden;
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die Gefährdung konkret, strukturell und nachweisbar ist, etwa durch Gewaltverbindungen, Umsturzabsichten oder institutionellen Unterwanderungsstrategien;
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die demokratische Mehrheit willens ist, ein solches Verbot inhaltlich zu verteidigen – und nicht bloß zu dulden.
Dann ist das Parteiverbot nicht Ausdruck von Schwäche, sondern ein Akt politischer Hygiene – vergleichbar mit der Entfernung zersetzender Substanzen aus einem lebendigen Organismus.
Die Einstufung der AfD als „gesichert rechtsextremistisch“ durch das Bundesamt für Verfassungsschutz unter der Verantwortung der vormaligen SPD-Innenministerin Nancy Faeser wirft für die neue Regierungskoalition unter Beteiligung der CDU/CSU mehrere politisch-strategische, rechtsstaatliche und kommunikative Folgefragen auf.
I. Rechtlich-institutionelle Ausgangslage
Zwar handelt es sich beim Bundesamt für Verfassungsschutz um eine nachgeordnete Behörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern, es ist aber nach dem Legalitätsprinzip und auf Grundlage des BVerfSchG verpflichtet, unabhängig von parteipolitischen Erwägungen zu beobachten und einzustufen, was als verfassungsfeindliche Bestrebung zu werten ist. Eine unmittelbare Einflussnahme durch die Innenministerin ist juristisch ausgeschlossen, gleichwohl bestehen politische Steuerungsmöglichkeiten über Prioritätensetzungen und Haushaltsmittel.
Der Umstand, dass diese Einstufung kurz vor dem Regierungswechsel erfolgt ist, hat daher faktisch eine erhebliche politische Bedeutung, auch wenn sie formal keine Bindung für die neue Regierung entfaltet.
II. Bedeutung für die CDU/CSU: Politische Ambivalenz
1. Legitimität durch Distanz zur Entscheidung
Die neue CDU/CSU-geführte Regierung kann sich auf den Standpunkt stellen, dass die Entscheidung in der Amtszeit der SPD gefallen ist und daher nicht politisch auf ihr Konto geht. Diese Distanzierung schützt vor dem Vorwurf parteipolitischer Instrumentalisierung des Verfassungsschutzes.
Zugleich erlaubt es ihr, die Einstufung politisch mitzunutzen, ohne sie aktiv verantworten zu müssen – eine für die Union taktisch günstige Lage.
2. Spagat zwischen konservativem Profil und Abgrenzung zur AfD
Die CDU/CSU befindet sich insbesondere in Ostdeutschland in einem Wettbewerb mit der AfD um konservative Wählersegmente. Die Verfassungsschutz-Einstufung zwingt sie nun zu einer noch klareren Positionierung: Wer sich nicht glaubwürdig von einer als verfassungsfeindlich eingestuften Partei abgrenzt, riskiert eigene Legitimationsverluste im bürgerlich-konservativen Lager.
Zugleich muss die Union vermeiden, dass sie durch übermäßige Distanzierung Wähler an die AfD verliert, die den Verfassungsschutz als „politisch gesteuert“ wahrnehmen. Das erzeugt einen Balanceakt.
3. Koalitionsinterne Konfliktlinie
In einer Koalition mit der SPD (wie offenbar nach deinem Hinweis aktuell gegeben) bedeutet die Einstufung eine Verschärfung der Erwartungen an gemeinsame demokratische Abgrenzung. Die SPD kann – unter Hinweis auf Faesers Entscheidung – nun stärkere Maßnahmen gegen die AfD verlangen (z. B. Prüfauftrag für ein Verbotsverfahren, Mittelentzug, Unvereinbarkeitsbeschlüsse). Die Union muss sich dazu verhalten, ohne ihre staatspolitische Autorität zu beschädigen.
III. Strategische Optionen für die CDU/CSU
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Verfassungsfreundliche Staatsräson betonen
Die Union könnte sich als „staatstragend“ positionieren: Sie akzeptiert die Einschätzung des Verfassungsschutzes, betont aber gleichzeitig, dass die Auseinandersetzung mit der AfD politisch erfolgen müsse – ohne vorschnelle Verbotsdebatten. Das ist ein Signal der Mäßigung. -
Abgrenzung mit Betonung eigener inhaltlicher Alternativen
Statt sich pauschal von der AfD abzugrenzen, könnte die Union versuchen, konservative Inhalte glaubwürdig zu besetzen, aber innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung. Damit grenzt sie sich doppelt ab: von links und vom Extremismus. -
Kritik an der Vorgängerregierung als strategisches Ventil
Falls nötig, kann die CDU/CSU öffentlich Zweifel an der zeitlichen Taktung oder den politischen Motiven der Einstufung durch Faeser äußern – ohne die Einschätzung selbst zurückzunehmen. Dies dient der Beruhigung der AfD-nahen Sympathisanten im Osten.
2 Antworten
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Angesichts der Risiken eines Parteiverbotsverfahrens stellt sich die Frage, warum der Entzug von Grundrechten nach Art. 18 GG kaum diskutiert wird. Gegenüber herausragenden Agitatoren der AfD könnte diese Maßnahme höhere Erfolgsaussichten auch in der Wirkung auf die Öffentlichkeit haben.