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Wieviel Politik verträgt Unabhängigkeit?

Arbeitsrecht – Erbrecht - Kommunalrecht

Wieviel Politik verträgt Unabhängigkeit?

Rechtsprechung

Die Frage nach politischem Einfluss auf die personelle Besetzung in staatlichen und staatsnahen Institutionen ist von grundlegender verfassungsrechtlicher, demokratischer und praktischer Bedeutung. In Deutschland gibt es eine Vielzahl von Institutionen, in denen die Politik formell oder faktisch Einfluss auf die Besetzung nimmt.

Ein systematischer Überblick:

I. Verfassungs- und Gerichtsbarkeit

1. Bundesverfassungsgericht

  • Besetzung: Jeweils zur Hälfte durch Bundestag und Bundesrat (§ 5 BVerfGG).

  • Politischer Einfluss: Kandidaten werden im Vorfeld von den Fraktionen „ausgehandelt“. Es gibt keine objektiven Auswahlkriterien, sondern parteipolitisch motivierte Entscheidungen.

  • Kritik: Politische Einflussnahme gefährdet den Anschein der Unabhängigkeit und führt zur De-facto-Politisierung des Gerichts.

2. Bundesgerichte (BGH, BVerwG, BAG, BFH, BSG)

  • Besetzung: Gemeinsamer Richterwahlausschuss (§ 57 DRiG) bestehend aus 16 Landesjustizministern und 16 vom Bundestag gewählten Mitgliedern.

  • Politischer Einfluss: Auswahl durch ein politisch dominiertes Gremium – auch hier spielt parteipolitische Zugehörigkeit eine Rolle.

  • Kritik: Mangel an transparenter und qualifikationsbasierter Auswahl.


II. Rundfunk und Medienaufsicht

1. Öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten (z.B. ARD, ZDF)

  • Gremien: Rundfunkrat und Fernsehrat.

  • Besetzung: Mitglieder werden u.a. von Parteien, Regierungen, Kirchen, Gewerkschaften und anderen entsandt.

  • Politischer Einfluss: Verfassungsgerichtliches Urteil zu ZDF-Fernsehrat (BVerfG, Urt. v. 25.03.2014, 1 BvF 1/11): Max. ein Drittel der Mitglieder dürfen Staatsnähe aufweisen.

  • Kritik: Politischer Einfluss auf Programm, Personal und Intendanz, insbesondere beim ZDF


III. Staatsanwaltschaften

  • Dienstaufsicht: Durch die Justizministerien der Länder.

  • Weisungsgebundenheit: Staatsanwälte unterliegen gem. § 146 GVG den Weisungen der vorgesetzten Behörde – bis hin zum Justizminister.

  • Kritik: In politischen Verfahren (z.B. CumEx, politische Korruption) kann dies zur faktischen Einflussnahme führen.


IV. Öffentliche Unternehmen und Anstalten

1. Deutsche Bahn AG, Deutsche Post AG, KfW, Bundesdruckerei, etc.

  • Besetzung von Vorständen und Aufsichtsräten: Teilweise durch Bundesministerien oder über politisch besetzte Gremien.

  • Kritik: Postenvergabe häufig nach Parteibuch („Parteienproporz“), nicht nach Eignung oder Fachlichkeit.


V. Wissenschaft und Hochschulen

  • Wissenschaftsrat: Mitglieder teilweise durch Bund und Länder benannt.

  • Hochschulräte: In vielen Bundesländern werden politische Vertreter in die Aufsichtsgremien berufen.

  • Kritik: Einfluss auf Berufungen, Hochschulstruktur und strategische Ausrichtung.


VI. Aufsichtsbehörden und Regulierungsstellen

1. Bundesnetzagentur

  • Leitung: Präsident wird durch das Bundeswirtschaftsministerium bestimmt.

  • Kritik: Politischer Einfluss auf Netzausbau, Regulierung, insbesondere bei Großprojekten.

2. Bundeskartellamt

  • Präsident: Wird durch das Bundeswirtschaftsministerium bestimmt.

  • Einfluss: Theoretisch gering durch gesetzlich garantierte Unabhängigkeit; praktisch jedoch abhängig vom politischen Rückhalt.

3. Finanzmarktaufsicht (BaFin)

  • Fachaufsicht: Bundesministerium der Finanzen.

  • Kritik: In der Wirecard-Affäre wurde politische Einflussnahme (zögerliche Eingriffe) massiv diskutiert.


VII. Rechnungshöfe und Kontrollinstanzen

  • Bundesrechnungshof: Präsident wird vom Bundespräsidenten auf Vorschlag der Bundesregierung ernannt (§ 2 BRHG).

  • Kritik: Kein Eingriffs- und Sanktionsbefugnisse des Rechnungshofes in Bezug auf seine Feststellungen


VIII. Verwaltung und Diplomatie

  • Botschafter, Ministerialbeamte, Spitzenpositionen in Bundesbehörden:

    • Ernennungen erfolgen durch das jeweilige Ministerium bzw. Kabinett.

    • Häufige politische Besetzungen nach Parteizugehörigkeit.


IX. Verfassungsorgane mit personellen Nominierungsrechten

  • Bundestagspräsident, Bundeskanzler, Bundespräsident: Schlagen Mitglieder z. B. für Verfassungsorgane, Gerichte, Behörden, Bundesbank, etc. vor.

  • Kritik: Deutlich parteipolitisch geprägt, insbesondere bei schwach normierten Auswahlprozessen.


 

Die Unabhängigkeit zentraler Institutionen wird in Deutschland in vielen Fällen durch politisch motivierte Besetzungsverfahren gefährdet. Während bei Gerichten und Behörden häufig eine rechtliche Absicherung der Unabhängigkeit besteht, wird diese faktisch durch parteipolitische Erwägungen unterlaufen. Besonders kritisch ist dies bei Institutionen, die Kontrolle über den Staat oder die öffentliche Meinung ausüben (z. B. Medienaufsicht, Justiz, Aufsichtsbehörden).


Mögliche Reformvorschläge

  1. Unabhängige Besetzungskommissionen, orientiert an wissenschaftlicher Qualifikation statt Parteizugehörigkeit.

  2. Transparente Hearings und öffentliche Bewerbungsverfahren.

  3. Verfassungsrechtliche Begrenzung der Parteieinflussnahme, z. B. analog zum ZDF-Urteil des BVerfG.

  4. Stärkung des Grundsatzes der Gewaltenteilung im praktischen Regierungshandeln.

 

Wieviel Politik verträgt das Bundesverfassungsgericht? – Zur Richterwahl 2025, dem Verlust an Unabhängigkeit und möglichen Reformwegen – Graf Kerssenbrock & Kollegen


Gefährdete Unabhängigkeit? – Politische Einflussnahme auf Gerichte und die Notwendigkeit struktureller Reformen

In einem demokratischen Rechtsstaat ist die richterliche Unabhängigkeit eines der höchsten Güter. Sie sichert nicht nur die Gewaltenteilung, sondern ist Garant für den Schutz der Grundrechte und für eine funktionierende Verfassungs- und Rechtsordnung. Doch gerade in der Bundesrepublik Deutschland zeigt sich zunehmend ein Spannungsfeld zwischen verfassungsrechtlich garantierter Unabhängigkeit der Gerichte und einer faktisch bestehenden politischen Einflussnahme – insbesondere über die personelle Besetzung und die institutionelle Abhängigkeit bei der Ressourcenvergabe.

Dieser Beitrag zeigt auf, wo politische Einflussnahme strukturell verankert ist, welche institutionellen Reformen – etwa nach dem Vorbild der Rundfunkfinanzierung – denkbar sind, und weshalb die Auswahl der Richterinnen und Richter am Bundesverfassungsgericht dringend entpolitisiert werden muss.

I. Politische Einflussnahme auf die Justiz: Strukturelle Schwachstellen

1. Personelle Besetzung durch politische Gremien

Die meisten Richterinnen und Richter in Deutschland werden durch Gremien bestellt, in denen politische Vertreter entweder unmittelbar beteiligt oder tonangebend sind.

Beispielhaft sei genannt:

  • Der Gemeinsame Richterwahlausschuss auf Bundesebene (§ 57 DRiG), der sich zur Hälfte aus Landesjustizministern und zur Hälfte aus Bundestagsmitgliedern zusammensetzt.

  • In den Ländern bestehen meist eigene Wahlgremien, ebenfalls mit starker politischer Prägung.

Diese Praxis hat zur Folge, dass – zumindest auf höheren Ebenen – nicht immer allein fachliche Qualifikation und persönliche Eignung ausschlaggebend sind, sondern parteipolitische Erwägungen eine Rolle spielen können. Eine Entwicklung, die das Vertrauen in die Unparteilichkeit und Integrität der Justiz beeinträchtigen kann.

2. Finanzielle Abhängigkeit vom Justizministerium

Die Gerichte sind finanziell – insbesondere in Personal- und Sachmittelfragen – der Exekutive unterstellt. Dies bedeutet konkret:

  • Haushaltsmittel werden vom jeweiligen Justizministerium oder Finanzministerium veranschlagt.

  • Investitionen in IT, Personalplanung, Digitalisierung, Justizgebäude etc. sind Teil des allgemeinen Landeshaushalts oder Bundeshaushalts.

  • Damit sind Justiz und Verwaltung strukturell verwoben, obwohl sie funktional strikt getrennt sein sollten.

II. Die KEF als Vorbild – institutionelle Unabhängigkeit durch externe Kontrolle

Ein Gegenmodell zur politischen Einflussnahme bietet der öffentlich-rechtliche Rundfunk. Auch hier bestand über Jahrzehnte hinweg die Gefahr der politischen Einflussnahme – insbesondere über die Finanzierung. Als Korrektiv wurde die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) geschaffen (§ 14 RStV).

Vorteile der KEF:

  • Unabhängigkeit von politischen Vorgaben bei der Ermittlung des tatsächlichen Finanzbedarfs.

  • Transparenz der Bedarfsprüfung.

  • Verbindlichkeit ihrer Empfehlungen für die Festsetzung des Rundfunkbeitrags.

Diese Struktur hat dazu beigetragen, das Prinzip der Staatsferne im Rundfunk zu stärken und politisch motivierte Einflussnahmen zumindest im Bereich der Finanzierung einzudämmen.

III. Reformvorschlag: Eine „Justizfinanzkommission“ (JFK) nach Vorbild der KEF

Zur Stärkung der richterlichen Unabhängigkeit bedarf es einer strukturellen Reform, insbesondere im Hinblick auf die Haushaltsautonomie der Justiz. Denkbar wäre die Einrichtung einer Justizfinanzkommission (JFK) mit folgenden Merkmalen:

1. Zusammensetzung

  • Richterinnen und Richter aus allen Gerichtsbarkeiten,

  • Justizwissenschaftler,

  • Haushaltsrechtler,

  • Vertreter der Anwaltschaft und ggf. des Bundesrechnungshofs.

2. Aufgabe

  • Prüfung und Feststellung des sachlich gebotenen Ressourcenbedarfs der Gerichte und Staatsanwaltschaften.

  • Erstellung eines verbindlichen Finanzplans, der in den Haushaltsgesetzgebungsprozess eingespeist werden muss.

  • Kontrolle über Mittelverwendung und Investitionsbedarf.

3. Rechtswirkung

  • Die Empfehlungen der JFK müssten verbindlich oder zumindest stark verpflichtend sein, um politische Einflussnahme effektiv zu begrenzen.

4. Vorteile

  • Entkopplung der Justiz von der Exekutive.

  • Stärkung des Anscheins der Unabhängigkeit.

  • Planungssicherheit für Gerichte, insbesondere bei Digitalisierung, Personalgewinnung und IT-Infrastruktur.

IV. Politisch unabhängige Auswahl der Verfassungsrichter – im Interesse der Verfassung, nicht der Parteien

Ein besonders sensibler Bereich der politischen Einflussnahme ist die Besetzung des Bundesverfassungsgerichts.

Der Status quo:

  • Die 16 Verfassungsrichter werden zur Hälfte vom Bundestag und zur Hälfte vom Bundesrat gewählt (§ 5 BVerfGG).

  • In der Praxis dominiert ein intransparentes Parteienkartell, das Kandidaten in politischen Hinterzimmern „aushandelt“.

  • Die Kandidaten müssen im Bundestag mit einer Zweidrittelmehrheit bestätigt werden – was faktisch zu einem politischen Tauschgeschäft führt.

Die Folge:

  • Die Auswahl orientiert sich nicht primär an fachlicher Exzellenz und juristischer Integrität, sondern an parteipolitischen Erwägungen.

  • Die Akzeptanz der Entscheidungen des Gerichts gerät zunehmend unter Druck.

  • Die Institution verliert an Autorität und Überparteilichkeit – gerade in gesellschaftspolitisch aufgeladenen Fragen.

Reformbedarf:

  • Einführung eines unabhängigen Vorschlagsgremiums, zusammengesetzt aus erfahrenen Richtern, Juraprofessoren, dem Deutschen Juristinnenbund, dem Deutschen Richterbund und weiteren Berufsverbänden.

  • Öffentliche Anhörungen der Kandidaten mit Transparenz über Qualifikation, Haltung zur Verfassung, frühere Entscheidungen, akademisches Werk.

  • Ausschluss von Parteimitgliedschaft oder aktiver politischer Betätigung in den letzten fünf Jahren.

  • Die Verfassung steht im Mittelpunkt – nicht die Person oder die Partei.

V. Fazit: Unabhängigkeit sichern – durch Strukturen, nicht nur Appelle

Richterliche Unabhängigkeit darf nicht allein ein verfassungsrechtlicher Programmsatz sein, sondern muss institutionell abgesichert werden. Die derzeitigen Strukturen ermöglichen, teils fördern sogar, politische Einflussnahme in zentralen Bereichen:

  • Personalauswahl,

  • Haushaltssteuerung,

  • strategische Justizausrichtung.

Die Einführung einer Justizfinanzkommission nach dem Vorbild der KEF würde die Haushaltsautonomie der Gerichte stärken und damit ihre funktionale Unabhängigkeit gewährleisten.

Noch entscheidender aber ist die Entpolitisierung der Besetzung des Bundesverfassungsgerichts. Denn wo die Verfassung durch parteipolitische Interessen instrumentalisiert wird, verliert sie ihre Kraft als übergeordnete Norm. Die Richterinnen und Richter am Bundesverfassungsgericht sind nicht Parteivertreter – sie sind die Wächter der Verfassung.

 

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